Wir sitzen in der Lobby im Hotel Aro in Kronstadt und trinken Whisky. Demselben Aro, an welchem meine Familie und ich vor über dreissig Jahren, in der goldenen kommunistischen Ära, vorbeigingen und keinen Einlass hatten, da wir rumänische Bürger waren und keine Ausländer mit Devisen, welche durch das Hotel beeindruckt werden sollten.
Das Hotel hat nach wie vor 5 Sterne. Sie sind draussen am Schild. Hier drinnen haben sie sich in die Ecken verzogen. Das Publikum ist international laut. Die Getränke, welche man gerne in der Lobby trinken möchte, holt man selber an der Bar, beim netten Wolfgang, des Deutschen nicht mächtig, der Name trügt. In der Halle wird gerne wichtig telefoniert. Würde man das auf dem Zimmer tun, könnte es nicht so beeindruckend durch den Raum hallen. Unterschwellig ist der Glanz vergangener Zeiten noch da. Auch das Modarom ist noch da. Und der wundervolle Platz mit dem alten Rathaus. Was allerdings auch da ist: unzählige Restaurants und Geschäfte. Die Strada Republicii ist nun eine Fussgängerzone mit zig Sonnenschirmen, unter denen dem Essen und Trinken gefrönt wird. Die Altstadt ist voll, voll, voll. Laut. In meiner Erinnerung ist Kronstadt die «besondere Stadt», der absolute Aufstieg nach Nussbach und Weidenbach. Eine Stadtwohnung mit Dusche. Das Lyzeum. Kino und Konditorei. Schuhgeschäft, Markt mit Melonen. Die Stadt, in welche man fuhr, wenn der Vater seinen Lohn bekam und man in ein Restaurant gehen konnte. Dieses Besondere ist nicht mehr nachvollziehbar, heute. Man ist so weit weg von all dem …



Auf dem Weg hierher haben wir Halt in Nussbach gemacht. Nussbach! Der Bach ist nur noch ein Rinnsal, ein Teil wird für ausserhalb liegende Fischteiche abgezapft. Auf diesem Bach bin ich Schlittschuh gelaufen?! Die Türen der Kirche sind verriegelt. Da war ich öfter mit der Oma Lienert im Gottesdienst und habe Frakturschrift lesen gelernt, durch das Gesangbuch. Das Grab vom Opa Lienert ist noch da. Die Milchsammelstelle ist schon lange ausser Betrieb. Ich erinnere mich sehr gut an folgende Begebenheit: Beim Besuch der Oma, welche hier tätig war, bin ich auf einen Auslasshahn am Sammeltank gestiegen und wollte neugierig hineinschauen. Natürlich habe ich das Gleichgewicht verloren und wäre fast hineingefallen, wenn die Oma mich nicht am Hosenbund aufgefangen hätte.
Der Bahnhof ist ein verlassenes Gebäude, in welchem Massen an Müll rumliegen, und das Dach bricht vermutlich in den nächsten zwei Wochen zusammen. Hier hatte ich mal ein benutztes Kaugummi auf die Gleise gelegt, um zu schauen, ob der Zug klebenbleibt. Damals … Die Brücke über den Alt ist ruinös; dass sie die Autos noch trägt, welche darüber holpern, grenzt an ein Wunder. Auf dieser Brücke stand ich als Kind gerne und blickte auf das Wasser. Man hatte jedesmal den Eindruck, die Brücke würde sich bewegen, nicht der Fluss.
Das Lienert-Haus ist da, in der Kurve, ohne Bank davor, dafür mit Satellitenschüssel. Das Hirschgeweih über der verglasten Veranda ist blass, aber da. Der Hügel vor der Kirche ist in Wahrheit nur eine kleine Erhebung und kein Hügel. Als Kind, im Winter, mit Schlittschuhen runtersausend, fühlte man sich wie ein Held. Mit halberfrorenen Füssen ist man danach nach Hause, um sich von Mama aufwärmen zu lassen. Mir fällt noch ein, dass, wenn abends die Kühe ins Dorf zurückgetrieben wurden, jede Kuh wusste, wo sie wohnt, und durch das geöffnete Tor in ihren Hof ging.
Als Abschied von Nussbach habe ich einem Zigeunerwagen nachgewunken. Ein junger Mann hat zurückgewunken. Ich bin in Rumänien!



10. September 2022, Schässburg – Nussbach – Kronstadt