Weisse Häuser in Locquirec

Der Abschied von Chrystel aus dem B&B «Alfred et Agatha» (zuerst hatte ich gedacht, das wären die Inhaber, aber nein, Alfred Hitchcock und Agatha Christie sind gemeint) war ein wenig wehmütig; es hat sich angefühlt als würde man nach Hause abreisen, Urlaub vorbei … Ich habe mir ein paarmal vorsagen müssen: Aber nein, es geht weiter, nächste Station ist Locquirec. Chrystels Herzlichkeit, das wunderschöne Zimmer, das köstliche Frühstück … Danach hegt man die Befürchtung, dass kein weiterer Aufenthalt in der Bretagne so gelungen sein kann.

Mittagsrast in Lamballe. Sehr nettes, lebendiges Städtchen. Wir trinken etwas im Zentrum, die Tische und Stühle des Cafés sind frontal zum Marktplatz ausgerichtet, man kann alles beobachten. Grossartig. Wer geht oder fährt vorbei? Die getragene Mode ist auf jeden Fall nicht aus Paris.

Stopp auch in Guingamp. Kurzer Besuch der Kirche, sie fällt durch ihre besondere Architektur ins Auge. Nicht fürs Auge, aber für den Gaumen ein feines Eis nebenan. Und weiter.

Locquirec. Die meisten Häuser sind weiss und nicht steingrau, Fensterstürze und Dächer braungrau. Der kleine Hafen gefällt auf Anhieb, kleine Boote liegen schräg am Strand, der Spaziergang um den Hafen äusserst attraktiv.

Das Abendessen in der Brasserie de la Plage wird zum Erlebnis. Ich bestelle Meeresspinne. Obwohl ich nicht genau weiss, wie man ein solches Tier isst, möchte ich es probieren. Die langen Spinnenbeine öffne ich einigermassen gut. Beim Versuch, den Körper zu knacken, macht es flutsch! – und der leicht stachlige Spinnenleib liegt auf dem Boden, zu Füssen der Tischnachbarn aus Sachsen. Sie schauen etwas überrascht – ich plaziere das Tier wieder auf meinem Teller. Zum Glück sitzen wir auf der Terrasse, Spuren des Missgeschicks kann ich dezent zwischen den Holzdielen verschwinden lassen … Ich kämpfe weiter und besiege das Meeresungeheuer, es wird gegessen. Es hat mir geschmeckt.

Das Frühstück in unserer Unterkunft L’Ardoisière ist mindestens so gut wie bei Chrystel. Es gibt unter anderem das beste selbstgemachte Granola. Ich habe ein grosses Zimmer mit eigener Terrasse gebucht. Das Wetter lässt sich davon nicht beeindrucken: Es ist kühl und sieht nach Regen aus. Wir machen uns trotzdem auf und verbringen ganze fünf Stunden mit Wandern, am Strand spazieren gehen, Staunen über die Veränderungen, welche durch Ebbe und Flut entstehen. Dann setzt Nieselregen ein, der typische Finistère-Nieselregen, sagt zumindest Kommissar Dupin im Roman. Der Regen ist fein und fällt schräg im Wind. Steht man zwischen Farn, hoch wie man selbst, oder in einer Gartenanlage, wähnt man sich im Urwald. So stelle ich mir Regen im Urwald vor.

Bei Ebbe erreichen die Strände eine Breite, die man für unwirklich hält. Sehr oft bleiben beim Rückzug des Wassers Algenteppiche liegen, welche mit kleinen Traktoren eingesammelt und weggefahren werden. Flüsse, die in den Ozean münden, leben auch im Rhythmus der Tide, zumindest in Meeresnähe. Boote liegen schräg im Schlick und warten auf die nächste Flut. Es ist ein Spektakel, dessen Dimension mich überrascht.

Locquirec, Frankreich, 4. bis 8. Juni 2025