Majestätisch überragt er das Churer Rheintal: der Calanda. Schon seit längerem hatte ich mir vorgenommen, seinen immerhin 2805 Meter hohen Gipfel zu erklimmen. Keine alltägliche Herausforderung für einen Flachländler wie mich. Aber ein wenig Verausgabung muss ab und zu sein. Ausserdem waren ein paar Wochen zuvor meine alten Wanderschuhe zerschlissen, und die neuen sollten nach einigen zufriedenstellenden Probemärschen nun endlich richtig und würdig eingeweiht werden. Nach kurzem Studium von Karten und Erfahrungsberichten hatte ich mich für den Aufstieg von Haldenstein aus entschieden. Bis zum Gipfel des sogenannten Haldensteiner Calanda bedeutete das gut 2200 Höhenmeter. Für dieses Abenteuer plante ich einen ganzen Tag ein.
Schon früh am Morgen machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof, um mit dem ersten Zug nach Haldenstein zu fahren. Um 6 Uhr trottete ich bereits den finsteren Waldweg oberhalb des Dorfes entlang. Durch die Bäume hindurch bot sich immer wieder ein schöner Blick auf das noch friedlich dahindämmernde Chur. Nachdem ich mir auf einer Alp den Weg durch heimtückisch im Zwielicht lauernde Kuhfladen gebahnt hatte, legte ich eine erste Verschnaufpause ein und bestaunte die Morgendämmerung über dem Aroser Weisshorn und Brambrüesch.
Der etwas rustikale, aber gut ausgeschilderte Weg führte weiter hinauf durch Wälder und über Alpen, die immer wieder schöne Aussichten ins Rheintal gestatteten. Nach langwierigem, aber wenig spektakulärem Aufstieg, während dessen ich nur einem oder zwei Menschen begegnet war, gelangte ich schliesslich an die Baumgrenze. Etwas weiter oben grüsste schon die Calandahütte, an der selbstverständlich ein Zwischenstopp geplant war. Gelegenheit für eine grössere Pause und Stärkung! Vom blauen Himmel strahlte die Oktobersonne herab, und von meinem ruhigen Platz aus genoss ich die Aussicht und beobachtete die Betriebsamkeit vor der Hütte.
Nachdem ich so eine halbe Stunde ausgeruht hatte, entschloss ich mich zum Aufbruch. Nun war es scheinbar nicht mehr weit. Dass bis zum Gipfel immer noch 800 Höhenmeter zu überwinden waren, ging in der Euphorie über das bisher Geschaffte unter. So eilte ich über die angrenzende Wiese, die sich als recht holprig herausstellte, und stapfte bald auf dem weithin sichtbaren Weg eine steile, staubige Geröllhalde hinauf.
Irgendwo auf diesem Abschnitt stellte sich dann ein ziemlicher Konditionseinbruch ein. Nur noch mühsam ging es voran, Schritt für Schritt quälte ich mich langsam den schlimmen Anstieg hinauf, bis es endlich geschafft war. Vor mir breitete sich das Gipfelplateau aus, eine öde Mondlanschaft, in ihrer graubraunen Eintönigkeit nur von etlichen grossen und kleinen Steinmännerstapeln geziert. In so eine Gegend hatte ich noch nie meinen Fuss gesetzt. Und dann sah ich ihn: den Gipfel! Noch lag er in einiger Entfernung, aber das Gipfelkreuz war deutlich zu erkennen. Das Ziel nun endlich vor Augen, war jede Müdigkeit vergessen. Rasch war das Plateau überquert, bevor noch ein paar kleine Klettereinlagen warteten. Durch eine bizarre Felsengruppe wand sich das letzte Stück des Weges, und schon konnte man grandiose Ausblicke über den Grat geniessen. So stolperte ich die letzten Stufen nach oben und stand schliesslich, nach fast siebenstündigem Aufstieg, völlig ausgepumpt auf dem Gipfel des Haldensteiner Calanda.
Im Gipfelbuch hielt ich die Tatsache fest: «So weit oben war ich noch nie!» Dann musste natürlich noch die Flasche geöffnet werden: Der Calanda ist Namensgeber für alles Mögliche in und um Chur, so auch mehr oder weniger schmackhaftes Bier. Ich fand die Idee witzig, auf dem Gipfel des Calanda ein selbiges zu geniessen. Viva!
Das Unangenehme an einem Aufstieg ist, dass man irgendwann wieder nach unten muss. Nachdem ich lange unter dem Gipfelkreuz gesessen und die wunderbare Fernsicht genossen hatte, machte ich mich also auf den Rückweg. Der dauerte länger als angenommen. Nach fünf Stunden stakte ich muskelkatergeplagt durch Haldenstein und erreichte noch den letzten Bus nach Chur. Zu Hause angekommen, offenbarte sich beim Blick in den Spiegel ein rekordverdächtiger Sonnenbrand. So endete eine erfolgreiche, wenn auch überaus anstrengende Mission. Welcher Gipfel wartet als nächster?