Wildschweine im Paradies

Still und heimlich auf die Frühstücksterrasse geschlichen. Ja, es gibt zwei Terrassen, eine mit Morgensonne, die andere für den Nachmittag. Noch niemand hier, Gezwitscher, in der Ferne Mopedgeräusche und ein vorbeifahrender Zug, Eichelhäher in unmittelbarer Nähe, die Weinberge ziehen sich fast senkrecht die Hügel hoch. Jetzt und hier kann ich erzählen von der Wanderung vom 14. Mai, Cannero – Ascona, 27,2 km, 6 Stunden 43 Minuten.

Losgegangen in der morgendlichen Frische mit Sonne – der Regen war nachts gefallen – und frohen Mutes Cannero verlassen. Recht bald schlängelt sich der Weg hinauf in beachtliche Höhe, passiert Sommerhäuschen mit schönen Gärten, links des Weges befindet sich dichter Wald. Spuren mache ich ausfindig, ähnlich dem Umgraben von Erde, und bevor ich verstehe, höre ich ein deutliches Grunzen im Gebüsch und sehe ein kleines Wildschwein wenige Meter vor mir auf dem Weg. Welch ein Schreck! Bache mit Kleinen! Bin sofort stehengeblieben und habe laut und deutlich und ruhig, aber bestimmt, gerufen: He, ihr Wildschweine, haut ab! Siehe da, das Kleine hebt endlich den Kopf, sieht mich und rennt zu den anderen ins Gebüsch. Unter lautem Ästebrechen verschwinden alle im Wald.

Bin weiter, der Schreck sitzt mir noch eine ganze Weile im Herzen. Ich hole den Wanderstock raus und laufe auf Steine klackend meinen Weg, hoffend, dass die Tiere des Waldes mich rechtzeitig hören und sich zurückziehen. Teilweise habe ich auch gepfiffen, gesungen habe ich auch, es gab mir ein Gefühl der Sicherheit im grossen, schönen, einsamen Wald. Wäre ich ein Tier – solch ein Daheim würde mir gefallen.

Steigung und Abstieg wechseln sich stetig ab, steinerne Saumpfade, schlechte Pfade, Felsen, gute Pfade, Bächlein, kleine Wasserfälle, vergnügliches Plätschern allerorten. Plötzlich nicht nur ein Bächlein, sondern ein Bach. Wozu eine Brücke? Soll der Wanderer sich etwas einfallen lassen … An der seichtesten Stelle bin ich rüber, vorsichtig, um nicht abzurutschen von den glatten Steinen, dann doch noch durchs Wasser und schwupps! – links war es tiefer als gedacht und damit in meinem Schuh. Glücklicherweise nicht allzu viel abbekommen, ich marschiere weiter.

Ich komme durch alte, hübsche, aus der Zeit gefallene Örtchen. Steinhäuser, blühende Pflanzen, Quellen, öffentliche Waschstelle. Verwunschen schön, das alles, romantisch. Der letzte Abstieg bringt mich zur Grenze. Ich grüsse ein paar Beamte, niemand interessiert sich für mich, und da bin ich: zurück in der Schweiz. Ich freue mich. Recht bald werde ich allerdings das wildere, urtümlichere, nicht so aufgeräumte Sein der Italiener vermissen.

Ich erreiche Ascona. Ein hübscher Ort: noble Geschäfte, die Promenade voller Restaurants, alte Kirche, ein paar wenige dümpelnde Boote. Wunderbare Unterkunft, feinstes Apéro im Innenhof. Später entscheide ich mich für die Osteria Nostrano. Sympathisch! Es ist ziemlich voll, gemischtes Publikum, man kann Tennis im übergrossen TV schauen oder den drei Pizzabäckern auf die Hände. Am nächsten Morgen bin ich früh wach, wie immer, laufe am See entlang, durch den Ort und halte Ausschau nach einer Bar, welche bereits um 6 Uhr öffnet. Aber nein, die Menschen hier schlafen länger, keiner möchte um sechs einen Espresso trinken und ein Aprikosengipfeli essen. Italien ist woanders. Ich muss mich mit dem Anblick von spazierenden Hundehaltern zufriedengeben und bis 8 Uhr warten. Das Frühstück ist sehr lecker, ich bin der einzige Gast.

Heute in Gudo, auf der Frühstücksterrasse. Sonne, Milchkaffee, der Ruf eines Kuckucks und der Entschluss, dem Inhaber im Garten zu helfen. Wandern werde ich noch oft, aber jemandem im Garten zu helfen hat Seltenheitswert.

14.30 Uhr, nach getaner Arbeit. Ach, welch ein Gefühl! Nützlich war ich, und es hat Freude gemacht. Steinterrassen und -stufen von Laub befreit und Fugen von Unkraut. Jetzt sieht es gepflegt und noch hübscher aus. Gäste könnten nun durch den üppigen, südlichen Garten schlendern, auf einer Bank Platz nehmen und denken: Wie romantisch! Und ich hätte einen Anteil dazu geleistet.

Beim Fegen im Garten habe ich einen Stein hochgehoben, darunter befand sich ein Skorpion, ein schönes, grösseres Tier, scheu und schnell verschwindend. Kurzer Schreckmoment, dann fiel mir ein, dass der Stich dieser Art nur so wehtut wie ein Wespenstich. Weiter oben am Hang ein leerer Pool unter Jasminduft, es befindet sich ein weisser Plastikstuhl darin und verwelkte Blätter. Eigentlich hätte ich Platz nehmen sollen. Wie ich mich gefühlt hätte? Im Sommer soll das Badebecken reaktiviert werden. An sich eine zauberhafte Ecke; man könnte in einer heissen Sommernacht unter Sternen ein Bad nehmen. Ohne Skorpion. Ja, so stelle ich mir das vor.

Gudo, Tessin, 15. bis 17. Mai 2025