Ich hatte die Terrasse der altmodisch eingerichteten, etwas in die Jahre gekommenen Osteria eine gute Stunde für mich. Zimmer mit Charme der siebziger Jahre, allerdings Loggia mit Schiebefenster. Wären die Feigen reif gewesen, hätte ich nur die Hand ausstrecken brauchen, um mindestens eine Frucht zu ergattern. Auf der Terrasse Wind, Sonne, Vogelgezwitscher, eine faule Katze. Jetzt, zur Apéro-Zeit, hat es sechs andere Gäste, deren Geniessen offenbar im Erzählen von Banalitäten besteht. Laut und alles übertönend. Ich bestelle ein Glas Wein und hoffe, dass der Trunk mich ermuntert, etwas über die Wanderung hierher zu berichten – trotz Lärm.




Ich habe einen leichten Sonnenbrand im Nacken und eine schmerzende Blase an der rechten Ferse. Selber schuld. Ich wollte heute nicht die schweren Scarpa-Schuhe anziehen, leichte Turnschuhe schienen mir ausreichend. Waren sie, mit Folgen.
Ich berichte rückwärts: Ascona – Gudo, 26 km, 5 Std 19 min, Laufen von A nach B.
Ascona und Locarno auf bekannte Weise hübsch, ja schick. Hinter Locarno ein Affogato in der Osteria La Riva (köstlich), und dann einfach laufen.






Industriegebiete, Gewächshäuser, laute Strassen, hie und da ein kleines Naturschutzgebiet mit Stechmücken, eine einsame Mohnblume im grünen Kornfeld, permanent lärmige kleine Flugzeuge vom und zum kleinen Flugplatz Locarno. Die unendlich lang scheinende Strecke entlang dem Ticino ist an sich monoton. Bezaubernd ist allerdings der Vogelgesang von links, vom Fluss her. Zwischen dem kanalisierten Ticino und dem Wanderweg befinden sich die schönsten Wiesen, mal mit und mal ohne Kühe, meistens ohne. Plötzlich Gesang eines Vogels, wie ich ihn noch nie gehört habe; ich bleibe eine ganze Weile stehen und lausche. Ich kann nicht erkennen, was für ein Vogel das ist.








Der Rucksack erscheint mir an diesem Tag besonders schwer, die Schulterriemen drücken. Ich laufe weiter und denke: Ach, eine gute Übung für die geplanten Sommertouren. Und so erreiche ich das Dorf Gudo, ein Weindörfchen am Hang. Reben in steilster Lage. Welch ein Glück, dass die Terrasse in der Unterkunft eben ist, kein Treppensteigen zum Abendessen.
Bleibe ich morgen hier im Garten sitzen? Wandern? Das weiss ich noch nicht. Die Amseln singen, sie lassen sich von lauten Gesprächen nicht stören. Das Haus ist umgeben von Avocado-, Feigen-, Zitronen-, Orangen-, Pampelmusen- und Olivenbäumen, Zypressen, Jasmin, Wein, Pinien. Ein grüner Traum.
Obwohl die Etappe vom 14. Mai die schönste und anspruchsvollste war, tue ich mich schwer, darüber zu berichten. Vielleicht morgen.
Gudo, Tessin, 15. bis 17. Mai 2025

