Winterherbst in S-charl

Drei Tage im leuchtend gelben, herbstlichen Tal S-charl. Schlagworte, die im Herbst, in den Bergen, in Graubünden auch mal ihre Gültigkeit verlieren können. Nachträgliche Umbenennung in «Winterwandern mit Sichtung einzelner Pilze» wäre angebracht.

Der frühe Wintereinbruch hat die Planung der Wanderleiterin durcheinandergebracht. Ich befürchtete schon, eine langweilige Zeit im verschneiten Tal absitzen zu müssen, mit gelegentlichen kurzen Spaziergängen nach dem Essen. Weit gefehlt: Die Alternativrouten entpuppten sich als grosse, freudemachende Touren. Zwar von kürzerer Dauer und teils durch 20 cm Neuschnee, was ihnen jedoch nichts von ihrer Schönheit nahm und ihrem abenteuerlichen Charakter. Alleine unterwegs hätte ich es nicht gewagt, die winterlichen Verhältnisse zu überlisten.

Da sich so mancher Wanderer nicht mehr aufgemacht hat ins Freie, war die Landschaft in voller Stille zu geniessen. Es war so still, dass man hören konnte, wie einzelne kleine Schneekissen von Tannenzweigen fielen. So still, dass das Aufprasseln von Schneekristallen auf der Jacke hörbar war. Der Wind in den Zweigen. Der Nebel, mal dicht, mal durchdrungen von Sonne. Aufblitzen von blauem Himmel und Rauschen von Wasser. Weiss gefrorene Grasflächen oder unendlich wirkende gelbliche Ebenen. Tannenhäher im Arvenparadies God Tamangur. Dunkle Berge, deren Furchen, mit weissem Schnee gefüllt, surreale Bilder ergaben. Gemälde. Wir im Gemälde.

Welch ein Genuss, der Saunabesuch nach einer Tour in der kalten Luft. Ein warmes, feines Essen am Abend. Ein warmes Bett mit rot-weiss kariertem Bettzeug. Im Dämmerschlaf das Wahrnehmen von Hirschröhren.

Im Lauf der Tage neue Erkenntnisse: Eine Teilnehmerin verliert am ersten Tag die Sohlen ihrer Wanderschuhe, zum Glück auf dem Rückweg. Die Sohlen werden mit dünnem Draht und Tape aus dem Notfallkistchen der Wanderleiterin befestigt, sie halten bis zur Bushaltestelle. Die Betroffene fährt in den nächstgrösseren Ort, um neue Schuhe zu kaufen, die anderen fahren ins Hotel zu einer heissen Schokolade mit Rum und Sahne. Ja, gut überlegen, wie alt Schuhe auf einer Tour sein dürfen.

An der Rezeption gibt es betörend gut riechende, handgemachte Naturseifen. Ich erwerbe zwei unterschiedliche, eine davon entpuppt sich als Kratzseife, sie enthält natürliche Arvenbaum-Bestandteile. Der Duft mildert nicht das Kratzen, etwas für Hartgesottene.

Für den nächsten Tag Sandwich mit Käse bestellt; es kommen zwei, da eines vom Koch als zu klein befunden wird. Ich besitze wohl ein anderes Augenmass und möchte das zweite für den übernächsten Tag aufbewahren. Ich lege es auf den Boden vor die Balkontür meines Zimmers, die Stelle scheint mir der kühlste Platz zu sein für diesen Zweck. Die Putzfrau, mit der ich nicht gerechnet hatte, legt es auf den Tisch. Ihre Gedanken beim Vorfinden meiner Essreserve auf dem Boden möchte ich nicht kennenlernen.

Auf, Wanderer, mach dich auf, es wird sich lohnen.

  • 4. Oktober 2024, Val Minger, 11,1 km, 3 h, 640/640 Hm
  • 5. Oktober 2024, Mot Tavrü, 12,1 km, 3 h 15 min, 650/690 Hm
  • 6. Oktober 2024, God Tamangur – Süsom-Givè, 14,9 km, 3 h 15 min, 770/410 Hm