Traumhaft. Die Alpe d’Örz, unsere Unterkunft heute Nacht, liegt umgeben von ehemaligen Weideflächen in einer Felsenarena. Der Blick geht ungehindert ins Tal. Die Nala springt links vom Steinhaus über Felsbänder in die Tiefe und ist laut. Es gibt auch eine ebenere Fläche, man könnte darin plantschen, sollte man eine Vorliebe für Eiswasser haben. Die Nachmittagssonne lacht mich an, ein leichter Wind bewegt hohe Grashalme; ich sitze auf einer Steinbank an einem Steintisch und kann mir im Augenblick keinen urtümlicheren, schöneren Bergort vorstellen, als denjenigen welchen ich jetzt erlebe.
Cima di Biasca, 2500 m hoch, war unser heutiges Gipfelziel. Der Wanderweg dahin ist nicht offiziell markiert und auch nicht gesichert. Er hat mir viel Kraft und noch mehr Konzentration abverlangt. Wanderführer M. hatte zeitweilig sogar das Sprechen verboten. Daher grosse Zufriedenheit und grosses Glücksgefühl, nun hier zu sitzen, bei einer Tasse Espresso, einem Bier, einem Stück Kuchen. Sonne. Wind. Wasserrauschen.
Ich ziehe die Schuhe aus und lasse meine Zehen Luft holen und warmen Stein spüren. Schmetterlinge fliegen vorbei. Ziegenglöckchen am Hang. Drei Adler haben uns auf der Cima di Biasca lange beäugt, ihre Kreise gedreht, mal sehr nahe, mal weit oben. Eindrücklich. Gemsen haben wir auch gesichtet.
Späte Sonne. In meiner Nähe sind die Hänge und Bäume grün. Ein Stück weiter weg verwandeln sich die Berge mit ihren Bäumen in bläuliche Silhouetten. In der Ferne wird alles grau-blau, Bergspitzen erheben sich schemenhaft in den Sommerhimmel.
Im «Kuchilada» in Chur erschien mir eine Bialetti-Kaffeemaschine immer wie ein luxuriöses Gerät. Auf den Alpen hier lässt sich damit stromlos ein guter Kaffee kochen, mit Holz oder Gas, auch wenn die Maschinen ein wenig verbeult sind und das Aluminium gebleicht erscheint. Einen «caffè vero» kochen, heisst es.
Ich habe meinen Schlafsack auf eine Matratze, obere Etage, ganz rechts, deponiert. Ich hoffe, dass es als Zeichen verstanden wird. Ich hätte rechts von mir keine Schlafende und vermutlich keine Maus zu Besuch. Links nämlich befindet sich das Bett nahe an einem Mauervorsprung, und der ist mit Mäusedreck dekoriert. Diese Alphütte, ein echtes Steinhaus, ist innen nicht komplett verputzt und bietet dadurch mancher Maus einen Durchschlupf.
Bliebe man hier, für zwei, drei Wochen, man würde vergessen, dass es die «Welt» gibt mit ihrem Glitzer und mit ihrem Krieg. Instagram, Facebook und WhatsApp? Was ist das?
23. August 2024, Alpe di Vóisc – Cima di Biasca – Alpe d’Örz, 8,4 km, 3 h 32 min, 990/460 Hm