Alpe di Vóisc

Ankunft an der ehemaligen Käsealp, der Holzofen wird angefeuert, Töpfe mit Quellwasser aufgestellt.

Auf dem Weg hierher hat uns der Nieselregen begleitet, der heute morgen noch nicht angekündigt war. Die Grasflächen, die Sitzbank um die Alp: wunderschön, aber nass. Man kann draussen stehen und das Osognatal bewundern – sitzen muss man drin. Bei Sonnenschein ist vermutlich alles noch viel schöner und man könnte sich in eine ruhige Ecke verziehen. Denn wie immer und überall gibt es eine Person, die nur eines kennt: reden. Italienisch. Ich verstehe nur wenig, das ist gut, unterwegs bleibt es zum grössten Teil ein Geräusch, ähnlich dem Rauschen der Nala, welche durchs Tal fliesst.

Die erste Wegstunde war begleitet von sehr viel Fluglärm, kleine Flugzeuge, hin und her. Auch der Lärm eines Steinbruchs im Tal war stetig zu hören, die Wanderstille war woanders. Dann, nach dieser Stunde, bewegen wir uns durch das Osognatal von seiner schönen Seite, durchlaufen es, ersteigen es auf hunderten von Steinstufen. Vorbei an klitzekleinen Alpsiedlungen, jetzt als Ferienorte genutzt. Die grauen Steinhäuschen sehen düster aus, mit Dächern aus grauen Steinplatten. Daraus grüssen aber immer wieder ganz fröhliche Menschen, welche M., unseren Wanderleiter, kennen. Nala, das rauschende Flüsschen, bildet etliche Becken, in denen das Wasser türkis schimmert und zum Baden einlädt. Die Nala bildet auch kleine Wasserfälle, überfliesst Gletschermühlen und wird selber von alten Steinbogenbrücken überspannt.

Die Sonne kommt am späten Nachmittag hervor, es wird warm, ich kann raus. Sehr warm war mir auch beim Aufstieg hierher. So warm, dass ich Schweiss von Nieselregen nicht unterscheiden konnte. Bei Ankunft auf der Alp sofort trockene Kleidung angelegt. Das Tal ist wunderschön, tief eingeschnitten, felsig, wild, die Nadelbäume unglaublich hoch. Wir begegnen keinem anderen Wanderer. Hier gibt es keinen Empfang für das geliebte Handy. Funkstille! Unterwegs, in der Nähe der Ferienhäuschen, gab es eine Satelliten-Telefonzelle für Notfälle. Aber hier? Wie das wohl wäre, ein paar Tage empfanglos zu verbringen? Strom ist auch nicht vorhanden. Zwei Gaslampen habe ich erblickt. Es ist still hier draussen, neben dem plätschernden Brunnen, auf dem alten Stuhl. Manchmal dringt ein Lachen aus dem Steinhaus bis zu mir.

Sprache. Sprache schliesst ein – oder aus. Sie nicht zu können, entbindet von der Teilnahmepflicht an Gesprächen. Sie schliesst aber auch aus. Das Wichtigste wird mir unterwegs von M. übersetzt. Unterwegs bin ich auf einem feuchten Stein ausgerutscht und hingefallen. Ratzfatz war ich am Boden und genauso schnell wieder auf den Beinen. Ein wenig peinlich war es mir, an einer banalen Stelle hinzufallen. Glücklicherweise habe ich mir nicht böse wehgetan, zwei Schrammen am Unterarm, den Knöchel am kleinen Finger werde ich noch eine Weile merken. Eine Harmlosigkeit. Alles mit kaltem Quellwasser abgespült, das muss reichen.

In gewisser Entfernung von der Alp gibt es ein Plumpsklo. Es sieht herzig aus, die Holztür verzogen, man kann nicht abschliessen. Es gibt Gucklöcher in der Tür. Im Stehen könnte man einen Herannahenden warnen. Aber im Sitzen? Höchstens donnern. Links und rechts des Sitzthrons liegen alte Tannenzapfen, und etliche Spinnennetze zieren alle Ecken.

Ich leide ein bisschen an Mitteil-Entzug. Es ist ganz ungewohnt, niemandem mitteilen zu können, dass man angekommen ist, dass es einem gutgeht.

Apéro wird aufgetischt: Salsiz, Weichkäse, Chips, Knäckebrot, Pistazien, dazu Weisswein. Weisswein im Brunnen vorgekühlt. Die Felsen, auf denen meterhohe Tannen wachsen, erheben sich teilweise senkrecht über dem Fluss und bilden eine Kulisse, in der Hänsel und Gretel auf jeden Fall auf die böse Hexe stossen.

Ich sitze in der Sonne, es plätschert, es ist wohlig warm. Mein nassgewordenes Unterhemd/T-Shirt/Kopftuch trocknen in der Abendsonne, aufgehängt am Bügel/Stein/Stock zwischen Steinen, an der Hauswand. Es ist 18.22 Uhr, das Licht ist bezaubernd. Später wird es Pasta mit Hirsch-Bolognese geben. Beim Tellerspülen wird mir klar, dass mit «pila» Taschenlampe gemeint sein kann, aber auch Stirnlampe. Verlegen sitze ich in einer Ecke und tue auf müde.

22. August 2024, Osogna – Alpe di Vóisc, 9,1 km, 3 h 11 min, 1270 Hm