Speer – der höchste Nagelfluhberg Europas. Es heisst: 1951 m hoch, Gesteinskonglomerat, gehört zu den Appenzeller Alpen. Man kann so, oder so, oder so auf den Speer. Man kann aber auch über die Nordflanke hoch, blau-weiss T5, die offizielle Klasse des Wanderweges. Was das bedeutet, begreife ich eigentlich erst hinterher. Etliche Stunden später. Es erscheint mir wie ein Tagtraum. Das habe ich geschafft?
Ich vertraue F., er ist Wanderleiter, es ist sein Hausberg, schon als Kind war er oben. Er meint, der Weg über die Nordflanke sei der spannendste und schönste. Gut, denke ich, wenn er glaubt, ich käme da hoch, dann wird es wohl so sein. An der Stelle, wo der rot-weisse Weg in den blau-weissen «Kletterweg» übergeht, machen wir kurz Pause. Trinken, Austreten, ich verstaue die Flasche im Rucksack und schliesse alle Schnallen. Los geht’s.
Die ersten Meter sind ausgesetzt, aber problemlos zu machen. Dann stehen wir vor der ersten, ziemlich senkrecht verlaufenden Felsmauer. Stahlseile nach oben. Ich bleibe stehen, hole Luft, konzentriere mich, sammle meine Kräfte, geistige und körperliche. F. klettert auf meinen Wunsch voraus und gibt mir unterwegs Hinweise. Ich höre und verstehe und befolge sie. Befinde mich jedoch bereits in einer anderen, kleineren Welt. Einer sehr kleinen. Alles in mir und an mir ist konzentriert auf Kraft in Händen und Armen, das Suchen eines Vorsprungs zum Festhalten, nur wenig Kraft in dem Fuss, der einen Haltepunkt sucht und findet. Hochziehen mit den Armen. Atmen. Durchatmen. Wo ist die nächste Möglichkeit eines Halts? Eines Festhaltens? Das Stahlseil bietet Hilfe und Sicherheit, überhaupt erst die Möglichkeit, Meter für Meter hoch zu kommen.
Kletterpassagen wechseln ab mit schmalen Pfaden. Kriechen über eine Metallbrücke, gelegt über einen kleinen Abgrund. Stehen unmöglich, der Fels darüber hängt zu tief. Die Seilabschnitte hören auf. Ein Blick nach oben, die Gipfelplattform ist nahe. Noch einmal einen schmalen Pfad entlanggehen. Keine Pause. «Konzentriert bleiben!», ruft F. Rechts fällt die Wand senkrecht nach unten, es gäbe kein Halten bei einem Fall. Ich bleibe konzentriert.
Wir erreichen die Plattform auf dem Speer, und ich staune. Freue mich kindlich über den Ausblick. Wir stehen in der Sonne, unter uns ein Wolkenmeer, durchstochen von unterschiedlich hohen nahen und fernen Gipfeln. Die Sonne gewinnt an Kraft, sie löst die Wolken auf, die Aussicht ist gewaltig. Pause, etwas essen und trinken. Abstieg auf einem üblichen Wanderweg. F. erzählt alles mögliche, ich höre zu, stimme mal zu, stelle mal eine Frage. Bin aber noch in gewisser Ferne. Ich war da oben, oben auf dem Speer, an seiner Nordflanke hoch bin ich.
Später, in Chur, viel später, begreife ich, dass es Wirklichkeit ist.



20. August 2024