Heimkommtag. Alpe Nimi – schon in die Vergangenheit gerutscht. Sie sitzt allerdings tief in meinem Herzen.
Gestern nacht kam ein Gewitter auf; eines, wie ich es noch nie erlebt habe, so heftig. Ich hatte ja Sternenbett gegen Zelt getauscht, und das Zelt hätte auch die paar Regentropfen ausgehalten, welche für die Nacht angekündigt waren. Gegen 23 Uhr wurde ich wach, das unglaublich helle Wetterleuchten über dem Wallis durchzuckte meine geschlossenen Lider. Ich dachte (im Halbschlaf): Falls das hierher kommt, wird es im Zelt nicht lustig. Habe mich daraufhin wieder angezogen, sogar Schuhe angelegt, und all meine Sachen im Flackerlicht des fernen Gewitters in den Rucksack gepackt. Dann bin ich eingeschlafen.
Wach wurde ich um 1.36 Uhr (Blick auf das Handy neben mir), als ein Wind am Zelt anfing zu rütteln und die ersten Regentropfen zu hören waren. Raus bin ich, im Handylicht in den Küchen-Frühstücksraum der Alp gestolpert und geschlichen, Rucksack abgestellt, Wanderschuhe reingebracht und kurz Atem geholt. Dann ging es los! Etwas Grauenvolleres habe ich in den Bergen weder gesehen noch gehört. Es waren keine einzelnen Blitze auszumachen, sondern ganze Himmelsfelder wurden erleuchtet. Donner, der zwischen den Bergen hallte. Regen. Wind. Wie tausend kleine Steine auf dem Dach die Hagelkörner. Die Geissen verstummt, keine Glocke war zu hören.
Ich habe mich auf der Sitzbank am Tisch ausgestreckt, immerhin auf Sitzkissen, und war von unendlicher Dankbarkeit über diesen Unterschlupf. Teilweise bin ich eingenickt, wieder erwacht, die Bank hart, die Knochen weh. Es wurde kühl, meine Weste aus dem Rucksack hervorgeholt, um mich ein wenig zuzudecken. Ein Hochbett im Massenschlag hätte es gegeben für den Notfall, aber wie finden? Im Dunkeln rumtapsen und fühlen, ob es noch frei ist oder sich die Wanderer umverteilt haben?
Gegen Morgen hat das Gewitter nachgelassen, es wurde still. Ein neuer Tag, mit rosa Wölkchen über den Bergen. War letzte Nacht irgendwas?
Ein Kaffee, ein Stück Apfelkuchen von gestern. Abstieg ins Tal nach Gordevio. Tausende grüne Laubblätter auf dem Waldboden, vom Eis runtergeschlagen. Deutliche Spuren von kleinen Wasserläufen, die Steinchen und trockene Blätter vom Vorjahr mit sich getragen haben. An einer schattigen Stelle ein Haufen kleiner, runder Eiskugeln. Ich habe also nicht geträumt.
Wie gross die Freude beim Erreichen von Gordevio. Auf der Fahrt von Bellinzona nach Chur habe ich die Berge mit mehr Ehrfurcht angeschaut als bisher.
Den Ziegengeruch abgeduscht, daheim, allerdings nicht die Verwunderung darüber, dass man seinen müden Kopf an eine Geiss lehnen kann, die auch noch zwei Schritte nach vorne macht, damit man auf ihrer Schulter, und nicht auf ihrem Hals lehnt. Ich habe ihr erzählt und sie gekrault. Das Fell um das Maul ist sehr viel weicher als am Leib.
Ein Zelt ist eine Bleibe der besonderen Art. Eine hauchdünne Unterkunft; sie schützt vor Menschen- und Tierblicken. Sie schützt jedoch nicht vor den unterschiedlichsten Lauten. Dem Wiederkäuen der Ziegen, ihrem Niesen, dem Glöckchengebimmel, dem Trampeln der Esel. Dem feinen Flattern der Zelthülle im Wind. Ist gerade jemand vorbei gegangen? Im Dunkeln? Nein, doch nicht. Glockenbimmeln.

Alpe Nimi, Gordevio, Tessin, 10. bis 14. August 2024