Der zweite Tag. Ich fühle mich kränklich, ähnlich einer leichten Erkältung, ein wenig müde. Ich habe geduscht, nachdem ich von einer Nera de Verzasca abgeschleckt wurde. Sie hat mit mir geschmust, aber auch spielerisch ihren gehörnten Kopf gegen meinen Kopf gestossen.
Ich habe Sternschnuppen gesehen heute nacht. Viele, sehr schnell fallende. Bloss eine einzige vermittelte den Eindruck, einen Schweif zu hinterlassen. Der Sternenhimmel erneut so weit oben, so weit weg. Im Hochschauen wurde ich ein wenig ängstlich, ich fühlte mich so klein, so allein: Ob nicht doch der Wolf lauert und die Leiter hochsteigen kann? Aber das Gebimmel der Geissenglöckchen war unaufgeregt – kein Wolf in der Nähe. Einschlafen. Aufwachen. Sterne schauen. Einschlafen. Schwere Träume. Irgendwann die Morgendämmerung, keine Sterne mehr sichtbar.
Ein Kaffee aus der Bialetti kurz nach sieben Uhr. Etwa halb neun kommen die Ziegen von den Berghängen zurück, von alleine, sie wollen gemolken werden. Danach sind sie spielerisch, kämpferisch unterwegs. Später dösen sie in der Sommerhitze.
Die Wanderer sind weg, der Koch beginnt zu kochen, die Zicklein werden mit Milch gefüttert, danach schlecken sie am Salzblock.
Die späten Nachmittagsstunden sind die schönsten Stunden. Es ist heiss, was alle träge macht, die Berge in der Ferne sind blau, das Licht so mild. Es wird Apéro geben und Abendessen. Und ich werde mich baldmöglichst zurückziehen.


Die gestrige Wandergruppe von sieben Leuten ist wieder da. Sie nehmen natürlicherweise den Steintisch in Besitz und erzählen ohne Unterlass. Schweigen ist ihnen nicht gegeben. Ich freue mich auf die Zeit morgen zwischen neun und drei Uhr, die Stille zwischen dem Gehen der einen und dem Kommen der anderen. In dieser Zeit lassen sich kleine, braun gesprenkelte Eidechsen beobachten. Manche wohnen in den Steinmauern und stecken ihr Köpfchen heraus. Ameisen, welche fleissig Brotkrumen wegtragen. Etliche Grillen und Heuschrecken hüpfen herum und zirpen. Ziegenglöckchen klingen träger in den heissen Nachmittagsstunden. Noch einmal im eiskalten Badewasser baden?
Morgens gegen sechs Uhr schält sich Lena, die Ziegenhirtin der schwarzen Tiere, aus ihrem Schlafsack. Sie übernachtet, wann immer möglich, draussen bei ihren Geissen. Dann öffnet sie den Elektrozaun, und die Tiere verteilen sich. Lena liebt es, zum Frühstück Nutella zu löffeln.
Heute noch soll ein Helikopter kommen und Nachschub an Baumaterial für die neue Steinhütte bringen. Eigentlich ist nur das Fundament aus Steinen. Darauf sollen zwei Wohncontainer gesetzt und dann mit Steinen verkleidet werden, um die typische lokale Optik zu erhalten. Die Küche soll grösser werden und moderner. Ja, sogar über eine Geschirrspülmaschine wird diskutiert. Die Alp ist wohl sehr beliebt bei Wanderern. Gibt sie ihren Charakter dafür preis?




Alpe Nimi, Gordevio, Tessin, 10. bis 14. August 2024