24 Stunden

Ja, ich wollte wissen, ob es zu machen sei, eine 24-Stunden-Wanderung. Besser gesagt: ob auch ich es ins Ziel schaffe. Habe ich.

Welche Erinnerung bleibt?

Die Dunkelheit. Das Laufen mit Stirnlampe in die Nacht hinein, durch die Nacht in den nächsten Tag. Eine finstere Nacht; der angekündigte Vollmond zeigt sich eine Minute, schaut hinter einer Wolke bei St. Antönien hervor und verzieht sich auf Nimmerwiedersehen. Kein Mondlicht also, sondern Schwärze. In diesem Dunkel also wandern. Ich stelle fest, dass die Wahrnehmung, die Orientierung und das Gleichgewicht sich verändern. Beim Laufen auf einem schmalen Pfad, mit Abhang links, das heisst mit «schwarzem Nichts» an der linken Seite, überfällt mich eine Art leichte Übelkeit, etwas wie Höhenangst. Man kann nicht einschätzen, wie tief es runter geht. Wie schräg ist der Abhang? Gibt es Büsche oder Bäumchen? Wohin rutsche ich ab, falls ich rutsche? Ich konzentriere mich allein auf den Pfad im Lichtkegel der Stirnlampe, und nach guten zehn Minuten ist es vorbei. Wir erreichen den Partnunsee. Jeder weiss, dass er da ist, er ist so gross, dass man darauf Boot fahren könnte. Dennoch bleibt er unsichtbar. Eine schwarze Fläche im Schwarz der Nacht. Leichtes Klettern über Felsen, eine Passage gesichert mit Stahlseil. Auch das ist möglich mit Stirnlampe. Man folgt dem Vordermann, man ist ja nicht alleine. Der Wanderleiter wird den Weg schon finden … Es geht über Kuhweiden; man hört die Kuhglocken, mal links, mal rechts, sieht allerdings kein einziges Tier. Liegen Kühe nachts brav da? Oder stehen sie auf und kommen zornig zum Licht? Es kommt keine.

Die Kälte. Es ist Mitte Juli, also Sommer, mich überrascht allerdings die nächtliche Kälte. Es gibt immer mal eine Trinkpause, wir halten etwa fünf Minuten aus, dann wollen wir weitergehen. Wir frieren sonst zu sehr. Auf dem Rätschenjoch (2602 m) dämmert uns der neue Tag. Die Sonne zeigt sich bald. Die Kälte ist so stark wie die Freude, dass man wieder bei Licht laufen kann. Jacken und Westen werden angelegt, es wird sich hingekauert, und mit den Händen in den Achselhöhlen, zum Aufwärmen, lächelt man sich tapfer zu. Die Sonne steigt, es wird warm.

Der Tiefpunkt. Ich habe gehört, dass fast jeder auf solch einer Tour einen Tiefpunkt hat. Bin darauf vorbereitet – denke ich. Bei mir kommt er um halb neun morgens. Es kribbelt in den Oberschenkeln, die grossen Zehen schmerzen, die Fusssohle am Ballen brennt. Ich sehe mich schon ankündigen, dass ich mit der Gondelbahn von Madrisa ins Tal fahre. Ich kann nicht mehr. Es fällt mir ein, dass auch gesagt wird, dass das meiste Kopfsache sei. Also schweige ich und warte ab, wie sich das alles nach dem Frühstück um neun anfühlt. Ich nehme ein Birchermüesli zu mir, ein Stück Zopf und drei Espresso. Ich verwende Blasenpflaster, um meine grossen Zehen zu polstern. Und siehe da: Ich kann weiter laufen. Bis ins Ziel. Wo es Applaus gibt.

Wir waren eine tolle Gruppe, finde ich. Tapfer, homogen, der Wanderleiter hatte ein ausgezeichnetes Gemüt und das perfekte Gehtempo. Wir sind alle zusammen los und sind alle zusammen angekommen. Ein wunderbares Erlebnis. Kein Genuss, aber eine Leistung.

19./20. Juli 2024, 45,5 km, 2690/2790 Hm, 12 Std. 15 min reine Gehzeit