Ein Braulio bei der Buffalora-Hütte

Ich wache auf, und mein Blick geht durch das Fenster, fällt auf Schieferplatten, die Dächer in der Nähe. Nufenen, ein ehemaliges Säumerdorf, jetzt ein Dorf mit Vieh- und Landwirtschaft. Ich studiere das ausliegende Prospekt: Der Ort wurde 1280 gegründet, von Walsern, heute leben hier 140 Menschen. Ich finde nichts über dieses Haus, das «Schloss», ich muss nachfragen. Imposant ist es nämlich; schon allein die Steintreppen, Steinfussböden und der Frühstückskeller lassen vermuten, dass es nicht nur ein kleines Zuhause war. Wer hat es warum so gebaut?

Habe ich den schweigenden Hirten von gestern erwähnt? Auf der Alp Roc im Curciusatal. Das Durchqueren der Mutterkuhherde ist problemlos verlaufen, obwohl wir in unmittelbarer Nähe am Vieh vorbeigelaufen sind. Ich vermute, die Herde hat noch nie eine solche Menschenschlange durchlaufen sehen und ist vor Erstaunen erstarrt. Der Hirte muss uns von weitem erblickt haben. Die Hunde waren angekettet, als wir auf der Alp eintrafen. Der Hirte hat sich nicht blicken lassen. Alle haben ihre Wasserflaschen aufgefüllt: Die letzten sechs Kilometer waren noch zu bewältigen, durch das Tal mit der «Gewässerperle der Schweiz».

Irgendwann habe ich mich umgedreht. Da stand er, der Hirte mit einem Holzstab, auf einer kleinen Anhöhe, blickte uns nach und hatte nun die Hunde bei sich. Alle stumm.

16.36 Uhr, Buffalora-Hütte, Calancatal. Ein Braulio, Bank mit weiter Sicht, hinter mir ein plätschernder Brunnen. Ich bin sitzen geblieben, ich habe die anderen gehen lassen, zu dem kleinen See mit grasigem Ufer. Ich verzichte auf ein Bad, um Ruhe zu geniessen, endlich etwas Ruhe!

Meine Geduld für das Wanderverein-Wandern ist erschöpft: Zu viele Leute, zu viel Geschwätz, zu wenig Genuss, Gefühl für die Landschaft oder Horchen auf den Wind. Eine Gruppe von Frauen, alle mit Stöcken, die sie andauernd auf Felsen aufsetzen, ohne zu begreifen, dass man meistens abrutscht vom Fels. Die meiste Kraft wird in die Arme investiert, scheint es, also in die Stöcke. Rutschen sie ab, so sind sie toll am Stolpern. Lieblingswort dabei: Hoppala! Die Kraft der Beine ist in jüngeren Jahren geblieben.

So wie diese Frauen früher vermutlich über Kinder, Windeln und Brei geschwätzt haben, so reden sie nun ohne Unterlass über Wanderschuhe, die nicht wirklich passen, über Rucksäcke, die nicht wirklich passen. Hoppala! Gestolpert.

Kleine Bäche werden überquert, als seien es mindestens Nebenflüsse des Rheins. Alle halbe Stunde Trinkpause, viele setzten sich sofort hin, ziehen Schuhe aus oder verspeisen Nüsse. Dann geht es weiter. Hoppala!

Bei jeder Steigung gerät die Gruppe ins Stocken. Ich muss an eine Ansammlung denken, die normalerweise häkelt und heute ausnahmsweise wandert.

Die Ameise, welche über die vertrockneten Nadeln im Wald läuft. Gesang von Vögeln. Der Wind in den Bäumen. Entferntes Wasserplätschern. Betörendes Grün. Ich höre: Der Weg ist steil, es ist heiss, die Füsse in den Schuhen sind heiss. Letztes Jahr war ich im Wallis, mit dem Bähnli … Hoppala!

Zurück zur Bank, in die Nachmittagssonne. Wärme, Wind, Plätschern, traumhafte Aussicht. Ich will diese kostbaren Momente nicht unerwähnt lassen.

Heute morgen um 7.30 Uhr in Nufenen: Alle Ziegen des Dorfes laufen über die Italienische Strasse, mit lustigem Glockengebimmel, raus aus dem Dorf, zur Alp, am «Schloss» vorbei, dem uralten Säumerhaus. Vor Zeiten gab es hier im Dorf das Gerichtshaus inclusive Stein, um jemanden darauf zu köpfen; das Rote Haus, das Weisse Haus (Schlafmöglichkeit für kleine Leute), das Schloss (Schlafmöglichkeit für grosse Leute). Das Schloss besitzt einen Durchgang von der Strasse durch das Haus nach hinten zu den Ställen. Unter dem Haus sechs grosse Keller für die Säumerwaren. Früher.

Postbus nach Messoco Stazione, ein alter, preisgegebener Bahnhof. 1907 gab es noch eine Zugverbindung nach Bellinzona; heute glänzen matt ein paar Gleisreste in der morgendlichen Sonne. Nächster Halt: Grono. Am Kirchplatz in der Bar Centrale läuft der Fernseher, Musikvideos aus den Achtzigern. Der Espresso kostet 2.50 CHF und schmeckt italienisch gut. Männer kommen, trinken einen Kaffee, rauchen eine Zigarette und kaufen Losscheine.

Nächster Halt: Rossa, Endstation im Calancatal. Die Wandergruppe steuert das Ristorante an, ich schliesse mich an, folge ihnen, ab hier gehöre ich zur Gruppe. Hinter der Theke ein alter Herr in Anzug und Krawatte, die Bedienung ein gemütlicher, rundlicher Herr mit rundlichem Kopf, in der Küche eine lustige, nicht mehr ganz junge Dame. Es wird nur italienisch gesprochen, der Fernseher läuft, er ist sehr gross und hängt über einer altmodischen Kommode, auf welcher unzählige, mehr oder weniger heilige Figürchen unterhalten werden. Die Wandersleute zeigen sich verwundert; sie waren noch nie in Italien?

Man kann Magnete für den Kühlschrank kaufen, allerdings nicht mit Sehenswürdigkeiten der Gegend, sondern mit Jesus oder Maria. Ich kaufe keine Maria, sondern ein Stück Birnen-Schoko-Kuchen für unterwegs. Ich freue mich darauf, ihn zu verspeisen. Grazie, signora, arrivederci.

Die Buffalora-Hütte ist sehr schön und sehr schön gelegen. Zur Begrüssung gibt es Marschtee; er taugt auch als Ankommtee, stelle ich fest: lauwarm, rötlich, aromatisch. Später gibt es Tagessuppe, Stocki mit Hackbraten und Karamellköpfli. Noch später gibt es vielleicht einen Sonnenuntergang. Und Sterne?

Aber da schlafe ich schon.

9. Juli 2023, Rossa – Capanna Buffalora, 5,47 km, 2 h 19 min, 950/0 Hm