Val Curciusa – eine Gewässerperle

Mein Zimmer im «Schloss» Nufenen – mit Sofa, um müde Beine hochzulegen, mit Holztisch und drei Stühlen, mit wunderbaren, alten Holzbalken als Wandbekleidung. Der Schalter für die Hängelampe über dem Tisch befindet sich in luftiger Höhe, er wollte gesucht und gefunden werden.

Dusche im Zimmer. Welch ein Luxus nach solch einer Wanderung. Heisses Wasser, so lange man möchte, und man möchte lange, mit geschlossenen Augen das heisse Wasser geniessen.

Davor aber, dringender als duschen, das Restaurant des Dorfes aufsuchen – der Hunger ist gewaltig! Noch nie bin ich so hungrig gewesen. Ungeduscht, mit Wanderschuhen und verschwitztem Shirt (immerhin feine, nicht stinkende Wolle) das Tagesmenü verspeist, dazu 0,5 l Panaché getrunken. Das musste sein. Und dann: duschen, duschen …

Im Hof hier gibt es gackernde Hühner, einen stolzen, bunten Hahn und eine E-Ladestation – für die Städter, welche zum Frühstück ein frisches Ei verspeisen werden.

Du fragst ungeduldig nach der Wanderung? Also gut.

Das markante Glasdach des Postautodecks in Chur spiegelt sich verheissungsvoll in der Frontscheibe des gelben Busses. Ernüchterung erfolgt bald: Die Fahrt Richtung Bellinzona ist überbucht, ich ergattere gerade noch einen Notsitz im Bereich der Rollstuhlfahrer. Immerhin ein Sitz.

In San Bernardino Villagio beginnt es zu nieseln. Irgend etwas läuft verkehrt, das Handy hatte Sonne und Wärme versprochen … Was soll’s, wir sind echte Wandersleute. Ein paar Regentropfen schrecken doch nicht 33 Teilnehmer ab. Ich betone: dreiunddreissig! Wir werden herzlich begrüsst vom Veranstalter, wie wunderbar diese hohe Teilnehmerzahl sei. Ich widerspreche nur innerlich, stumm.

Los geht es. Und zwar so: Mindestens 20 bewaffnen sich mit Wanderstöcken, als gelte es, die Vögel (welche wir hoffen anzutreffen) totzuschlagen und nicht mit Ferngläsern zu beobachten. Das Starttempo ist hoch und verbissen. Es werden die Stöcke gerammt und geschwungen; man muss als Hintermann achtgeben, nicht aufgespiesst zu werden. Aber dann beginnt die Steigung … Waren die Leute als Pulk unterwegs, so verwandelt dieser sich nun in eine Schlange. Der Weg ist schmal, es geht hoch und hoch.

Dürre, alte Damen rennen vorne mit; ein alter Herr spricht unaufhörlich, gleich einem Radio, welches keinen Aus-Knopf besitzt. Er spricht. Er wird dessen nicht müde. Über Verstrahlung und Tschernobyl, über Riom und den Chor von Netzer, über alles und nichts. Bis nach Nufenen hört er nicht auf. Er hat wohl einen Sprechwettbewerb gebucht, nur wir anderen eine Wanderung mit einem Biologen und einem Vogelkundler.

Also hoch, und weiter hoch. Der Weg abschüssig oder steinig und felsig. Wolken versperren lange die Sicht in die Ferne und nach unten. Aus dem Wolkenmeer dringt Kuhglockengebimmel, das Heulen von Motorrädern und Vogelgezwitscher. Eine mystische Welt, ohne weite Sicht, jedoch nicht tonlos. Eine Überfülle an wilden Blumen begleitet uns und lässt über ihre Schönheit staunen.

Wir erreichen die alpine Landschaft, und hier oben bricht die Sonne durch, sie befreit den Blick. Nun ist das Curciusatal erkennbar und sein Bach. Er windet sich und schlängelt sich, lagert Geröll ab, bildet kleine Sümpfe, plätschert munter, bildet breite Badestellen von schönstem, klarem, blauem Wasser. Kilometerweit das Tal und sein Bach. Man wandert und wandert, muss auf jeden Schritt achten, der vielen Steine wegen, und kann es kaum fassen, dass man nach insgesamt zehn Stunden Unterwegssein das Dorf Nufenen erreicht.

Die Teilnehmer: still, erschöpft, manche humpelnd. Nur das Radio … aber das macht nichts. Es spricht alleine, keiner hört mehr zu.

Wie gesagt, verschwitzt ins Restaurant geeilt. Der Hunger!

8. Juli 2023, San Bernardino – Nufenen, 18 km, 5 h 14 min, 900/970 Hm