«Den Steinmännchen nach zum Munt Müsella» heisst die Wanderung, angeboten vom Wanderverein. Das hört sich verlockend an – den Steinmännchen nach? Ja, tatsächlich, es gibt für diesen Weg keine offizielle Wegmarkierung. Also, nichts wie hin!
Es ist ein sonniger Oktobertag, der vorletzte Tag des Monats, es ist Herbst mit all seinen Farben. Ich bin noch leicht verschlafen, der Zug durchfährt im milden, blassen Morgenlicht die Berglandschaft. In La Punt Chamues-ch angekommen, wird man beim Aussteigen rasch wach: Es ist deutlich kühler hier als in Chur. Der Wanderleiter stellt sich vor und erklärt die Route, zeigt auf den Berggipfel, welchen man erklimmen wird. Ach ja, glücklicherweise habe ich auf den bisherigen Wanderungen gelernt, dass fast alles zu erreichen ist, wenn man nur geht, immer weiter geht. Die Chance ist also gross, den Munt Müsella zu erreichen, denke ich.
Der Aufstieg durch den Wald und dann über eine Hochebene ist so steil, dass alle Wanderer schweigen. Jeder haushaltet mit seiner Atmung und der Kraft in den Beinen. Angenehm, nur das eigene Schnaufen zu hören, und im Schweisse seines Angesichts tatsächlich den Gipfel, besser gesagt das grosse Steinmännchen, auf 2631 m zu erreichen.
Das Gras oben ist vollkommen trocken, gelb, leuchtend in der Sonne, und es knistert unter jedem Schritt. Die Augen blicken in alle Richtungen in die Weite, über Hänge, Bergketten, andere Gipfel, manche mit etwas Schnee verziert. Der Wind fährt mir durch die Haare, ich fühle mich vollkommen losgelöst von allem Alltäglichen, die Welt liegt mir zu Füssen.
Aber gut, ich muss mich hinsetzen und etwas essen wie alle anderen, um Reserven für den Abstieg zu haben. Ganz frei ist man nie, und sei es, weil man essen muss. Trotzdem, es ist wunderschön hier oben.
Der Weg zurück ins Dorf führt zum grossen Teil durch einen Arven-Lärchen-Wald. Die Sonne steht nicht mehr so hoch, das schräg einfallende Licht lässt vom Wind losgelöste Lärchennadeln wie rotgoldene Schneeflocken zu Boden segeln. Hier bilden sie einen weichen Nadelteppich, über welchen man lautlos gehen kann. Wacholderbüsche, Preiselbeeren, ein Schmetterling, kleine Grashüpfer, der eigene lange Schatten: Das alles zaubert ein langanhaltendes Lächeln ins Gesicht.
Traumhaft schön, der Tag beim Munt Müsella, Ende Oktober, bevor es richtig kalt wird.
30. Oktober 2022, La Punt – Munt Müsella – La Punt, 13,1 km, 4 h 4 min, 940/940 Hm