Wo ist Wildnis?

Die Stämme der Bäume im Auenwald sind schlank, sie stehen dicht beieinander, und oft sind sie leicht gebogen, als hätten sie unter dem Gewicht des Regens nachgegeben. Das Unterholz ist sehr dicht bewachsen, alles ist noch tropfnass. Vom Laub tropft es auf mein Gesicht oder auf eine Pflanze am Boden, dann erzittert ein feines Blatt, für einen Moment.

Pilze wachsen einzeln oder noch öfter gemeinsam und bilden dabei grosse, braungelbe Blumen mit Blütenblättern in unterschiedlicher Höhe. An roten, sehr verlockenden Beeren hängen Wassertropfen, unter meinen Schritten schmatzt die nasse Erde. Der Rhein zu meiner Linken führt sehr viel Wasser, und er verändert seinen Klang stetig. Er ist leise, er rauscht, er ist nah, er ist fern, er gurgelt, er bildet Stromschnellen, oder er ist träge. Hätte ich ein kleines unsinkbares Boot, ich würde mich auf das Wasser begeben und die unterschiedlichen Töne für eine «Wassermusik» aufnehmen.

Zu meiner Rechten steht der Wald, und in ihm haust der ewige Wolf, eine furchteinflössende Gestalt in meinem Unterbewusstsein. Er schleicht durch das Dickicht, er starrt, aber ich kann ihn nicht sehen. Er schleicht durch die Wildnis, die nur eine vermeintliche ist, schliesslich hört man in gewissen Zeitabständen die rote RhB-Bahn vorbeifahren. Wo kommt der Wolf her? Aus dem Rotkäppchen-Wald? Aber nein, der Jäger hatte ihm doch den Garaus gemacht. Ah, ich weiss es: Es gibt eine rumänische Erzählung, Pflichtlektüre aus der Schulzeit. Ein von zwei Pferden gezogener grosser Schlitten ist unterwegs, schnell, über eine weite, tief verschneite Ebene. Aus dem nahegelegenen Wald hetzt eine Meute Wölfe dem Schlitten nach, zerfetzt zuerst die Pferde, dann den Bauern. Einer dieser Wölfe hat sich weggeschlichen aus diesem Märchen …

Der Pfad ist schmal, kein Mensch in der Nähe, stundenlang, mein Herz klopft schnell, aber nicht wegen meiner Wanderschritte. Ich gehe mit einem Wanderstock, absichtlich, um die Geschwindigkeit des Gehens zu drosseln. Ist diese empfundene Wildnis in mir? Und deshalb auch der Wolf? Ich wünsche mir Alleinsein beim Wandern, ich wünsche mir aber auch hie und da eine Begegnung – mit einem Menschen.

Nach geraumer Zeit verwandelt sich der Pfad in einen breiten Waldweg, die Bäume sind jetzt Nadelbäume, der Boden dazwischen nicht mehr undurchdringlich. Die Sonne bricht durch die Wolken, sie schmeichelt dem Auge, das Herz beruhigt sich. Dieser Wald ist leuchtend und ohne Tücke, es läuft sich leicht. Der Schritt wird schneller: Wo ist der Mauersegler aus Metall, welchen man ersteigen kann, um für einen Augenblick wie ein Segler über den Rhein zu schauen? Da ist er, ich steige die Treppen hoch; es fällt allerdings schwer, zum Vogel zu werden: Oben sind Grosseltern mit ihren Enkeln, sie falten Flugzeuge aus Papier und schicken sie über die Schlucht, es wird gelacht und gescherzt. Mein Segler bräuchte Stille und Unbeobachtetsein. Ob ich gerne ein Foto von mir hätte, vor der grossartigen Kulisse? Ich lehne dankend ab.

Munter setze ich meinen Weg fort, immer öfter strahlen rostfarbene Laubblätter in der Sonne, an Bäumen und am Waldboden. Nun ist der Himmel blau, die Landschaft hat ihre unheimliche Seite abgelegt, sie ist jetzt einfach schön – schön, so wie man das landläufig versteht.

Wünsche ich mir die «Wildnis» zurück?

26. Oktober 2022, Castrisch – Reichenau, 22,9 km, 5 h 13 min, 540/600 Hm