Ununterbrochener Regen, nicht heftig, aber da, deutlich erkennbar im Licht der Strassenlaterne, erkennbar im nassen Glanz der Strasse. Einen Kaffee trinken, auf dem Sofa, im Schlafanzug, es ist noch früh und dunkel, die Kuscheldecke warm und schwarz.
Der Regen hört so bald nicht auf, ich ziehe mich an und gehe in die Stadt, nicht in die Berge, nicht an den Rhein und nicht durch die Weinberge, es regnet überall. Ich werde den Vormittag der Kunst widmen!
Die Stadt ist noch angenehm leer. Ich betrete das Kunstmuseum Chur und warte im modernen, grausteinigen Foyer mit grossen Fenstern, darauf, dass die Dame an der Kasse in Ruhe ihr Telefongespräch beendet. Sie denkt sich offenbar nichts dabei, dass ich auf der lederbezogenen Bank Platz nehme und warte. Ich warte geduldig, ich habe es nicht eilig. Das Gespräch findet sein Ende und ich finde mich an der Kassentheke ein. Die Dame ist überrascht, entschuldigt sich, sie war davon ausgegangen dass ich auf jemanden warte. Es freut mich, das zu hören, es bestätigt mir mein Warten ohne Hast.
Die Hauptausstellung heisst «Venedigsche Sterne. Kunst und Stickerei». Ich bin neugierig. Doch davor, quasi im Vorbeigehen, betrete ich den Raum mit der Ausstellung «Sockelgeschichten». Was das bloss sein soll? Vor mir ein grosses Metallfass, gefüllt mit Wasser. Ein Scherz, denke ich, moderne Kunst halt. Dann schaue ich in das Fass: auf seinem Boden eine Uhr, unter Wasser, mit Sekundenzeiger, eine Uhr wie auf einem Schiff. Ich bin gerade der einzige Besucher in dem Raum, es herrscht vollkommene Stille. Im Fass ist es still, das Wasser unbewegt, kein einziger Ton wird erzeugt. Die Zeit vergeht vollkommen lautlos, der Sekundenzeiger stottert nicht, er ist unerbittlich im Fortschreiten. Ich halte den Atem an – da ist nichts was man hören könnte. Und dennoch vergeht etwas.
Plötzlich klacken Schritte, Stimmen, Menschen. Sie erleichtern mir das Weitergehen zu den ausgestellten Stickereien. Es handelt sich um Kissenbezüge, Tauftücher, Paradehandtücher, Mustertücher, alt, in stundenlanger Handarbeit gefertigt, teilweise sehr alt. Auch hier ist Zeit vergangen, davon zeugen diese Stickarbeiten. Bei vielen schimmert der farbige seidene Faden noch, andere sind schlicht, roter Faden auf weisser Unterlage. Was auffällt, sind kleine Ungenauigkeiten im Muster, Abstände sind nicht gleich, die Füsse der Löwen sind unterschiedlich gross. Fehler? Oder Einmaligkeit? Handarbeit.
Die parallel dazu ausgestellten Stücke, moderne Stücke, sind interessant, Stickarbeit wird interpretiert und neu umgesetzt. Aber was erzählen sie? Nichts. Etwas erzählt wird nur von den mit der Zeit gealterten Stickereien von einst. Über eine Taufe, über hohen Besuch, über das Paar, welches sich die Wandstickerei im Zimmer aufhängt, über den Traum einer jungen Frau von einer guten Ehe.
Ich kehre zurück zur Uhr auf dem Fassboden. Hier vergeht die Zeit lautlos, wenn man das hören kann.