Kaffee gestampft

Es ist 19 Uhr, zum Abendessen gab es Fisch, und jetzt sind wir ziemlich müde. Mohammed, der deutschsprechende Stadtführer, hat uns die Augen für Sarajevo geöffnet. Bisher kannte ich den Namen der Stadt nur in Verbindung mit einem Krieg vor nicht allzu langer Zeit. Nun ist mir dieser Ort lebendig geworden und wird mir im Gedächtnis bleiben. Die Mischung aus Moscheen, orthodoxen Kirchen, katholischer Kirche mit der Statue von Papst Johannes Paul II. davor, Stadthäusern aus der k.-u.-k.-Monarchie, dem Basarviertel, modern westlich gekleideten Einwohnern, muslimischen Frauen mit Kopftuch, katholischen Nonnen fasziniert. Mein Staunen ist gross. Die Händler sind angenehm zurückhaltend, keiner quatscht den Besucher an, keiner möchte einen in den Laden zerren. In dieser Hinsicht war Jerusalem deutlich anstrengender, und nicht nur in dieser Hinsicht.

Heute morgen, sehr früh, hat man das Singen des Muezzins gehört, gestern abend das Glockengeläut einer Kirche in der Nähe. Während der Führung haben wir kurzen Halt in einem bosnischen Café gemacht, mit angeschlossener Rösterei und Kaffeestampferei. Es gab Mokka aus traditionellen Kännchen und Tässchen und dazu eine kleine Auswahl an zuckerwassergetränkten Süssigkeiten. Ein Diabetiker müsste seine Jahresration Insulin dabei haben. Auf dem Weg zur Toilette, Treppen hoch, Blick in den Laden, kommt man zu der Erkenntnis, dass ein Mensch sehr vieles zu sich nehmen kann, ohne dass das Gesundheitsamt zuerst Ordnung in die Unordnung bringen muss. Hier passt alles zusammen, im Basarviertel. In der Stadt gibt es übrigens auch ein Wiener Kaffeehaus mit Plüsch und Lüster an der Decke, vermutlich wäre es dort langweilig westlich gewesen.

Nach der Stadtführung sind wir erneut in das moslemische Viertel spaziert und haben uns in den Innenhof einer ehemaligen Herberge, Han, gesetzt, jetzt beherbergt es ein Café. Ich habe türkischen Tee getrunken. In der Mitte des viereckigen Hofes steht ein grosser Lindenbaum, durch dessen Blätter die Sonne blinzelt. An einer der Längsseiten befindet sich ein Geschäft, dekoriert mit alten, unverkäuflichen, gewebten Stoffen. Bunter Pferdeschmuck, Pferdedecken, Teppiche, sonstige Decken. Das Publikum gemischt: stolze Männer mit Zigarre, Schüler der benachbarten Koranschule, geschminkte Frauen mit Kinderwagen, leger verhüllte Frauen. Alle halten lange Schwätzchen bei einem Getränk, manche bestellen noch Kuchen. Hier gibt es keinen Alkohol, also auch kaum Touristen. Ein sehr netter Ort.

Der Innenhof der grossen Moschee ist für jeden zugänglich. Links vom Eingang befindet sich das Waschhaus für Gesicht, Hände und Füsse, Männer und Frauen getrennt. Vor dem Haupteingang zur Moschee gibt es, ebenfalls getrennt, Bereiche zum individuellen Beten, mit Matten ausgelegt. Der gegenüberliegende Uhrturm mit Halbmond zeigt die islamische Zeit an und mahnt zum gemeinschaftlichen Gebet. Zu bestimmten Uhrzeiten werden die Türen geöffnet und ein Wächter in einem Kittel beäugt die sich Nahenden. Täglich wird der komplette Koran vorgelesen, von Studenten. Dreissig junge Männer lesen jeweils zwanzig Kapitel vor, und jeder wird mit fünf bosnischen Mark dafür entlohnt. Das reicht für ein Mittagessen.

In der Markthalle ist mir feines getrocknetes Fleisch aufgefallen, sehr viel Frischkäse und Weichkäse, beide sehr weiss. Vor der Halle wurden haufenweise Granatäpfel angeboten. Wenn die Strassenbahn vorbeifährt, zittert der Boden, und der Lärm ist ohrenbetäubend. Die Bahn wirkt uralt und ist rumpelig. Angeblich hatte Sarajevo noch vor Wien eine Strassenbahn und ebenso das erste öffentliche WC mit fliessendem Wasser. Auch die Menschenströme fliessen durch die Gassen, am Sonntagnachmittag.

Bosnien-Herzegowina: muslimische Bosniaken, orthodoxe Serben, katholische Kroaten, ein paar Juden mit eigener Synagoge. Die evangelische Kirche wurde mangels Gläubigen in eine Kunstgalerie umgewandelt. In Sarajevo funktioniert das, was gesamtstaatlich nicht funktioniert: das Zusammenleben.

Sarajevo ist kein Abenteuer, es ist ein Erlebnis, sagt C., und es stimmt genau.

18. September 2022, Sarajevo