Ich bin des Schauens ein wenig müde, ich habe mich ins Erasmus-Café mit Buchhandlung im Teutsch-Haus zurückgezogen. Die eine Angestellte spricht nur Rumänisch, die andere kann Deutsch mit hartem Ost-Akzent. Es gibt unter anderem eine nette Auswahl an Büchern in deutscher Sprache. Ich habe Kafkas Verwandlung und Roths Radetzkymarsch gekauft. C. ist oben im Archiv und sucht nach Vorfahren der Lienert-Linie; der Stammbaum weist einige Lücken auf an dieser Stelle.
So spannend es war, die Dörfer, Kronstadt, das Lyzeum zu sehen, so erstrebenswert erscheint es mir, neue Gegenden zu erkunden und dann zurück in die Schweiz zu fahren. In das Ordentliche, das Geordnete, das Saubere. Der Besuch Siebenbürgens konnte keine Heimwehgefühle wecken. Es fühlt sich immer wieder so an, als würde jeder und alles etwas vorgeben zu sein, was nicht eingehalten wird. Kämen die Geschäfte, Hotels und ihr Service, die Strassen und Gebäude bescheidener daher, könnte man das Bemühen würdigen. Tun sie jedoch auf fünf Sterne, wirken die Mängel, welche überall feststellbar sind, eher abstossend. Nein, ich würde nie wieder hierher zurückkommen wollen. Es gibt sicher Besucher, welche all das als pittoresk erleben, ich nicht.
Der Markt hier in Herrmannstadt ist traumhaft. Die Bauern bieten Berge an Auberginen, roten Paprika, Tomaten, Rotkraut, Möhren und Petersilie an. Es wird kiloweise eingekauft. Passend dazu gibt es grosse blaue Einweckfässer. Gurken und Kräuter, es duftet wie früher auf dem Markt von Kronstadt. Marktfrauen beschimpfen sich. Es wird gefeilscht. Ah, es riecht so gut. Es gibt Plastik-Tischdecken am Meter. Rumänischer stinkender Käse. Blumen, Trauben, Pflaumen, getrocknete Bohnen, grüne Bohnen, Riesenpilze und Kartoffeln. Hefegebäck gefüllt mit Frischkäse und Dill, Holzlöffel und Nudelhölzer und Besen.
Zurück im Hotel, in der Lobby, wo Stehtische und -stühle die gemütlichen Sofas zustellen, habe ich mir ein Glas Weisswein bestellt und warte auf C. Weil ich heute morgen beim Frühstück ein paar nette Worte mit dem älteren Ober gewechselt habe, bekomme ich einen Cognac ausgegeben, selbstgebrannt von einem Sachsen aus der Gegend. Prost! Es ist, wie es war: ein Schwätzchen halten, lächeln, ein wenig loben. Später zahlt es sich meistens aus. Solche Begegnungen lassen das Urteil über die Krümel auf dem Stuhl oder den Fleck auf dem Vorhang etwas milder ausfallen.
Auch die ehrfürchtige Orthodoxie ist erlebbar. Frauen bleiben beim ersten Erblicken der grossen orthodoxen Kirche stehen und bekreuzigen sich mit geneigtem Kopf. Der Gottesdienst wird per Lautsprecher in den Hof und bis auf die Strasse übertragen. Drin ist es vermutlich voll, denn draussen stehen viele Menschen, berühren die Mauer der Kirche und schlagen das Kreuz. – In der evangelischen Kirche wird dem Besucher erklärt, dass die angeschlagenen Nummern links und rechts die zu singenden Lieder anzeigen. Die evangelischen Kirchen organisieren Konzerte, um etwas mehr Leute hineinzulocken.
C. ist erkältet; ich gehe erneut in die Stadt, in eine Apotheke. Nutze die Gelegenheit, nochmal die grosse evangelische Stadtpfarrkirche zu besuchen. Man bezahlt Eintritt, nicht nur hier, überall. Hier befindet sich eine berühmte Sauer-Orgel, das ist die grosse Kirchenorgel, und es wird um Spenden gebeten für ihre Restaurierung. Sie klingt sehr schön, habe aber ihre Macken, wird mir berichtet. Im Gebäude befinden sich zwei weitere, deutlich kleinere Orgeln. Sie wurden aus Dorfkirchen hierher gerettet, damit sie nicht wie vieles ehemals Sächsisches verfallen. Ich frage nach einer CD mit Sauer-Orgel-Musik. Ja, die gibt es, es handele sich aber nicht um Unterhaltungsmusik. Was für eine merkwürdige Aussage. Steht man jedoch eine Weile am Eingang und hört was (rumänische) Besucher so fragen, beginnt man zu verstehen. «Gibt es hier etwas für uns zu sehen?» oder «Muss man die Treppen hochlaufen, oder gibt es einen Lift im Kirchturm?» oder «Wenn der Eintritt Geld kostet, gehen wir.»



14. September 2022, Hermannstadt