Gerupfte Federn

Es ist 20.30 Uhr, Montag abend. Die Lobby ist fast leer, es wird live Piano gespielt und es gibt einen Ober, der beflissen den Whisky an den Tisch bringt. Der letzte Tag in Kronstadt. Ich freue mich auf die Weiterreise.

Am Vormittag haben wir die Kirchenburg in Honigberg besichtigt und glücklicherweise eine Führung gebucht. Beschämend festzustellen, dass man bis dato so gut wie nichts über die Geschichte der Sachsen in Siebenbürgen wusste. Jetzt weiss ich vieles. Das erworbene Wissen lege ich zu meinen Erinnerungen. Die Erinnerung wird bleiben, die Empfindungen von damals können in Worten wiedergegeben werden, gefühlt werden sie nicht. Die Aussage gegenüber anderen, dass man ein Sachse aus Siebenbürgen sei, ist nüchtern, nicht sentimental.

Auf dem Friedhof von Nussbach liegt der Lienert-Grossvater, in Neustadt liegt der Binder-Grossvater. Beide habe ich nicht gekannt. Es gibt auch keine Verwandten, die man besuchen könnte. Auch keine ehemaligen Schulkollegen. Die Feststellung vom März 1990, beim Einsteigen in den Zug nach Deutschland, ist heute noch gültig: Ab jetzt ist es egal, wo ich wohnen werde. Natürlich wohne ich lieber in der Schweiz als in Kiew …

Man hat seiner sächsischen Identität die Federn gerupft und kann jetzt über der nackten Haut so manches Gewand tragen. Vermutlich übertreibe ich. Dennoch denke ich manchmal so, ohne dass es wehtut, einfach feststellend. Es geht mir nämlich sehr gut da, wo ich bin und mit wem ich bin.

12. September 2022, Kronstadt und Umgebung