Heute ist Sonntag. Damit wir der gestern erwähnten internationalen Lautstärke aus dem Weg gehen, sind wir bereits um 7.30 Uhr zum Frühstück marschiert. Es war festzustellen, dass andere noch vor uns da waren. Nämlich Gruppen, welche mit dem Bus zur nächsten Sehenswürdigkeit – Bran, Sinaia, Peleș … – transportiert werden sollten. Wie auch immer, man lernt mit den Gegebenheiten klarzukommen. Das Büfett war überwältigend vielseitig. Es gab zwar nur zwei Sorten Marmelade, für Deutsche vermutlich, jedoch unzählige Variationen an Deftigem und Kuchen. Fein, fein.
Bei dem Versuch, unsere verschwitzte Wäsche der letzten Woche in den angepriesenen Laundry service zu geben, mussten wir feststellen, dass von den 5 Sternen wirklich nur noch einer für den Service übrig geblieben ist. Jaaa, man wüsste nicht so genau, wann die Wäsche fertig wird … Zu riskant im Hinblick auf die Weiterfahrt. Alternative wird kundgetan: Zum Kaufhaus Star gehen und dort die Sachen bei Fast Clean abgeben. Aha, also los mit drei Aro-Plastikwäschesäcken. Alles war offen, nur nicht die Reinigung; das Hotel hat nicht bekommen, dass seit 2020 andere Öffnungszeiten gelten. Mit drei Plastiksäcken also zurück und sie ins parkende Auto abgelegt. Irgendwo, irgendwann wird jemand unsere Wäsche waschen. In diesem Land braucht man einen Plan B, dann C, vielleicht noch D. Die saubere Unterwäsche, die Lenjerie intimă, wie es hier heisst, reicht noch für vier Tage, wenn man alles zweimal anzieht. Warum also die Nerven verlieren?
Haltung bewahren und in die Stadt laufen, Richtung Mittelgasse, zu meinem ehemaligen Domizil, Strada de Mijloc 34. Das Haus ist sehr gut zu erkennen, auch wenn es bei weitem nicht mehr das stolze Stadthaus von damals ist, gelb, mit Dekorationen über den Fenstern im ersten Stock. Das Tor ist das gleiche, der Innenhof mit Teppichstange, die verglaste Holzveranda. Bloss Tante Tilly schaut nicht mehr neugierig aus dem Fenster, sie ist im Frühling dieses Jahres gestorben. Erstaunlich, wie lange Bauten benötigen, um zu verfallen. So lange ein Mensch darin wohnt, erbarmen sie sich und halten irgendwie stand. Selbst wenn sie von aussen betrachtet erbärmlich aussehen.



Weiter zum Naturwissenschaftlichen Lyzeum. Ach, war ich damals stolz, die Aufnahmeprüfung bestanden zu haben. Dann zum Theater mit den schönen Säulen, unverändert. Die Bude quer gegenüber mit den besten Lángos der Stadt ist weg. Am Modarom ist eine Plakette mit Einschusslöchern angebracht, als Erinnerung an die Helden von 1989. Die Toten von damals haben der Stadt immerhin den Titel «Märtyrerstadt» eingebracht.
Mittags waren wir zum zweiten Mal im gleichen Restaurant, in der Michael-Weiss-Gasse. Als Dessert gab es Vogelmilch! Angeheitert durch einen Unicum-Schnaps aus Budapest sind wir mit der von Italienern erbauten Gondel auf die Zinne gefahren. Der Blick vom Belvedere-Punkt auf die Stadt ist auch nach dreissig Jahren der gleiche. Dreissig Jahre haben dem Blick nichts ausgemacht: Er bröckelt nicht, es fallen keine Dachziegel runter, es wächst kein Gras darauf. Neu ist, dass der Blick einen Nachbarn bekommen hat. Buchstaben: BRASOV. Nachts werden sie angeleuchtet, sie sind von weitem sichtbar. Hollywood wäre bestimmt eifersüchtig, wüsste es davon.
Wie erwähnt, heute ist Sonntag, und zum Sonntag gehört auch ein Gottesdienst, wenn möglich. Wir waren in der Schwarzen Kirche. Sie gehört immer noch der alten, sächsischen Evangelischen Kirche A. B. Die Leitung hatte eine rumänische Pfarrerin, welche perfekt deutsch spricht. Die Liturgie war lutherisch. Abendmahl wurde gefeiert. Es waren etliche Besucher da, sie sprachen deutsch. Ein deutscher Gottesdienst. Nicht alle Sachsen sind in Deutschland.
Was mir noch aufgefallen ist: Es gibt noch Blumenverkäufer: junge, elegant gekleidete Zigeuner mit Rosen oder ältliche, ärmlich angezogene Frauen mit hübschen kleinen Blumensträusschen. Anbieter von gekochten Maiskolben mit Salz trifft man an, aber kaum noch Zuckerwatteverkäufer. Die Leute stehen gerne an, um Eis in der Waffel zu kaufen. Es gibt tolle Angebote an Kuchen, nicht mehr jene in giftgrünen Farben mit chemisch hergestellter Buttercreme. An den Restaurants hängen die Speisekarten aus, die Schlenderer mit Hunger schauen sie sich sehr genau an. Das Angebot? Die Preise? Viele gehen weiter. Viele konsumieren. Die Altstadt ist sehr lebendig. In Rumänien kann man sehr gut essen.
In den Nebenstrassen stösst man schnell auf bröckelnden Putz, fallende Ziegel, blinde Fenster. Aber auch auf ein Guten Morgen, welches aus dem Fenster heruntergerufen wird.



11. September 2022, Kronstadt