Nivellierung

Hatten wir gestern Budapest noch dafür bewundert, dass es eine echte, schöne Grosstadt ist, ohne Rummel, so sind wir heute eines Besseren belehrt worden.

Genau, es gibt die Touristenströme, und zwar rund um die Matthiaskirche im Burgviertel. Das Burgviertel ist eine kleine Stadt für sich, mit hübschen Strassen. Ruhig. Denkt man, spaziert weiter und hört plötzlich Stimmengewirr. Da kündigt sich etwas an, bestimmt eine Sehenswürdigkeit! O ja, die wunderschöne Kirche mit buntem Dach und die Fischerbastei. Schlangen an den Kassen, sofern man rein möchte. Möchten wir nicht, kein Anstehen bitte. Weiter, Richtung Burg. Baustellenareal, gelenkte Besucherströme. In zwei Jahren ist es vermutlich überall sehr schön hier, und vermutlich genauso voll. Lieber runter an die Donau und über die Elisabethbrücke auf die Pester Seite wechseln.

Gut, dass wir heute früh die niedliche, altmodische Metro M1 zum Heldenplatz genommen haben, dann die Andrássy út zurück gelaufen sind, mit Halt im wunderschönen Café Művész. Ich hatte ein Stück Esterházy-Torte zum Espresso. Spiegel, Lüster, Lämpchen auf den kleinen, runden Tischen, Stuck an der Decke, Ober mit weissem Hemd und schwarzer Hose. An den tapezierten Wänden Fotos von verblichenen Intellektuellen. Da fühlt man sich wohl.

Ich kann den alten Zeiten nicht nachweinen, nicht wirklich, dafür bin ich noch zu jung. Dennoch alt genug, um festzustellen, dass eine Nivellierung zwischen Ost und West stattgefunden hat. Damals, vor dreissig Jahren, in Kronstadt, dachte man an den Westen wie an eine ferne Galaxie. Städte wie Bratislava oder Budapest schienen uninteressant, da im Osten befindlich. Heute spaziert man durch die Strassen von Budapest und ist einer der vielen. Kein Unterschied, was die Bekleidung angeht oder das Handy. Alle sind modern, allein die Sprache ist ein Unterscheidungsmerkmal. Die Geschäfte sind mondän oder die üblichen, wie in jeder grossen Stadt. Der Übergang vom Ostblock ins heutige Europa hat sich vollzogen, ohne dass man es mitbekommen hätte. Mit einem Volvo fällt man hier nicht auf, die teuren Marken sind überall präsent. Ich meine das in Bezug auf den Eindruck von früher. Damals kannte man Dacia, und falls ein Besucher mit einem Mercedes durch Kronstadt fuhr, war das ein optisches Ereignis.

Morgen wollen wir nach Grosswardein, Oradea, fahren. Ich bin gespannt.

7. September 2022, Budapest