Stille Abenteuer

Weinfelden ist schwer einzuschätzen. Hat es noch seine Seele? Für mein Empfinden gibt es Spuren davon, aber keine Kraft. Hätte nicht hie und da ein Laden auf, könnte man glauben, es sei Sonntag. Ein Sonntag, an dem fast alle Bewohner ins Grüne gefahren sind. Zwei wunderschöne Blumenläden habe ich angetroffen, etliche Coiffeurgeschäfte und Männer, die statt vor dem Bahnhof vor der Migros am Hauptplatz ihr Bier grölend konsumieren. Eine tolle Kirche, erhöht über der Altstadt, erbaut 1902 bis 1904, St. Johannis, reformiert. Über der Orgel leuchtet rotes Licht, ermahnend und heilig zugleich. Die Sitzreihen sind leicht geschwungen, sie ermöglichen ein Schauen und Lauschen der Predigt, ohne sich den Hals zu verrenken. Ich befinde mich im Hotel Zum Trauben, wundervoller Altbau, renoviert mit grossem Sachverstand für alt und neu.

Nun habe ich mit der Schilderung des heutigen Ziels begonnen statt mit dem Beginn der kleinen Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Wenn man ein echter Pilger wäre, müsste die Reise, denke ich, an der Haustür beginnen. Dafür hat man jedoch keine Zeit. Also, Zugfahrt nach Konstanz, um an dem Münster Unserer Lieben Frau loszugehen. Fühle mich nicht wirklich wie ein Pilger, hatte jedoch gehofft, ein eindeutiges Schild Richtung Santiago zu sehen. Ich sah aber keins. Das Münster wirkt teilweise streng. Wenn dann, wie heute, Marktstände mit italienischen Spezialitäten, Keramikgefässen, Würsten und ähnlichem davor stehen, wird es einem schwer gemacht, in Ehrfurcht Luft zu holen und die ersten Schritte zu tun. Man beginnt also ziemlich banal.

Die Altstadt von Konstanz ist wunderhübsch und unglaublich gut besucht – und das an einem Donnerstag! Wie ist es hier am Samstag? Ach, welch verlockende Cafés, Geschäfte, Strässchen. Da möchte man am liebsten verweilen. Aber man ist auf dem Weg, nach Weinfelden, nicht ins Café! Die Altstadt kommt zu ihrem Ende, der Randbezirk ist, sagen wir mal, nicht ganz so hübsch. Bald kündigt sich die Grenze zur Schweiz an. Bin ein braver Bürger und zücke meinen C-Ausweis. Kopfschütteln der Beamtin, Verdrehen der Augen Was ich denn will? – Na, nur rüber. – Ja, gehen Sie doch! – Ach, ich wollte doch nur vorbildlich sein. Weiter, weiter. Tapfer durch Wohn- und Kleinindustriegebiete, wann kommt die Natur?

Die Natur kommt und ist still. Unterwegs besteht man stille Abenteuer. Einsame Wege durch Laubwälder. Kleine Kirche mit Friedhof, friedlicher, weiter Blick bis zum Bodensee. Zwei Herren in schwarzen Anzügen sitzen auf einer Bank, unweit davon hebt ein kleiner Bagger ein Grab aus. Totengräber wären angemessener, denke ich kurz. Bio-Hanf-Feld. Wiesen mit alten, hochgewachsenen Apfelbäumen. Ein Ziegenbock steht auf seiner Behausung und knabbert Nussbaumblätter. Ein Felsbrocken aus Graubünden, laut Inschrift vom Stätzerhorn, Zeuge der letzten Eiszeit. Das Eis ist weit gewandert … Hübsche Fachwerkhäuser und gefährliche Kreuzungen zwischen Maisfeldern. Zur Abwechslung ein Kohlfeld. Die grauen Kohlköpfe passen gut zum grauen Himmel. Über all dem etliche Greifvögel, klein und gross, kreisend, ihr Ruf ist ein Pfiff und Schrei zugleich. In den Feldern sitzen immer mal geduldige Katzen und lauern auf Mäuse.

Dann tut sich irgendwann der Blick auf und man sieht Weinfelden. Von oben sieht man nicht sofort die Altstadt. Nun ja, das ist fast überall so. Oft gewinnt man den Eindruck, dass früher viel schöner gebaut wurde. Heute muss man zur Altstadt vordringen, um Freude an den Bauwerken zu haben.

Unterwegs habe ich gedacht: Der Mensch möchte überall hin, also baut er Wege. Er baut Wege und kann dann überall hin. Wie das wohl war, am Anfang, ohne Wege?

18. August 2022, Konstanz – Weinfelden, 18,6 km, 4 h 7 min, 380/340 Hm