Einmal Alvier und zurück

Man spart etliche Höhenmeter, indem man die Palfries-Bahn von Ragnatsch auf die Palfries-Hochebene nimmt. Die Talstation gibt sich in Tarnfarben, als Erinnerung daran, dass die Bahn ursprünglich als Militärbahn gebaut wurde. Jetzt kann sie acht Leute transportieren, Rucksäcke und Taschen kommen in einen Korb aussen an der Kabine. Flott gondelt man über den Ragnatscher Bach, über Wasserfälle, die jetzt ein Rinnsal sind – wir befinden uns mitten im Klimawandel und es herrscht Dürre. Die helle Felswand, von Wasser in besseren Zeiten geschliffen, ist trotzdem imposant. Man vertraut darauf, dass die Seilbahn hält, was sie verspricht. Der Blick nach unten weckt mulmige Gefühle. Aber alles kein Problem. Wohlbehalten entsteigt man oben der Kabine, und los geht’s.

Der Wanderweg über das Chemmi zur Alvier-Hütte auf 2343 Hm ist eine Wander-Schnellstrasse für die ganze Familie: Trailrunner, sehr schlank und schnell, Eltern mit Kindern, welche anscheinend mit Wanderschuhen befusst geboren wurden, ergraute Naturfans, die seit langer Zeit zu viel essen, aber tapfer schnaufend hochsteigen, und uns. Wir sind vier Frauen um die 50, eigentlich fit, bis auf eine, welcher ich unterstelle, dass sie ihre Kondition vollkommen falsch eingeschätzt hat. Es geht im Schneckentempo hoch. Darüber kann man sich ärgern oder stehen bleiben und schauen und lauschen. Auf der Palfries-Hochebene, mit wundervollen Ausblicken in alle Richtungen, befinden sich so viele Kühe, dass ihr Glockengebimmel ein meditatives Konzert ergibt. Das ist die Schweiz, denkt man innerlich, eine klingende, bergumgebene Idylle. Ach ja, weiter, die anderen einholen, wieder ein Stückchen gehen.

Frau C. in ihrem Kampf nach oben unterstützend, kommen auch wir bei der Alvierhütte an. Als erstes begrüsst einen ein Verbotsschild: Campieren und lagern verboten. Hm, speziell. Wenig später verstehe ich es. Die Hütte liegt fast verborgen, wie in einer Mulde, ringsum sehr viel Platz zum Picknicken und Schauen. Wer sich beim Wandern noch nicht verausgabt hat, dem steht ein Barren zur Verfügung. Man kann damit seine Begleiter beeindrucken oder feststellen, dass man zwar Arme, jedoch keine Kraft hat. Besser man geht zum Toilettenhäuschen mit Ausblick auf den Säntis.

Sich lagern, auf pinkfarbenen Regenjacken statt stilvollen Picknickdecken, Plastikdöschen öffnen statt Körbchen, Wasser nuckeln aus Bergwasserflaschen statt ein Glas Champagner schlürfen, die Schildmütze statt einem Sommerhut zurecht rücken. Aber was sage ich da? Die Zeiten haben sich geändert. Neugierige Alpendohlen schauen vorbei und segeln dann über uns. Es fehlt nur wenig, um sich selber wie eine Dohle zu fühlen. Herrlich luftig hier oben, man kann unglaublich weit in alle Richtungen sehen, eben, wie ein Vogel im Flug.

Nicht wie im Flug geht es runter, zurück durch das Chemmi, auf natürlichen und nicht natürlichen Fels- und Metallstufen. Um Frau C. den Abstieg zu ermöglichen, schnalle ich ihren Rucksack über meinen und denke ich sei ein hilfsbereiter, selbstloser Mensch. Im Berghaus Palfries machen wir Kaffepause, ich bestelle einen Appenzeller Schnaps und einen Espresso. Die Mittags-Datteln haben mir Bauchweh beschert, der Schnaps zaubert das weg. An dieser Stelle kommt mir der Gedanke, dass ich mir gewünscht hätte, Frau C. hätte mir den Espresso ausgegeben, als Zeichen des Dankes. Also doch nicht so selbstlos?

Das Bähnli kommt, das kleine, grüne Kartonkärtchen mit der Nummer 46122 wird entwertet, und es geht Richtung nach Hause. Schön war es.

13. August 2022, Palfries – Alvier – Palfries, 7,72 km, 2 h 25 min, 680/680 Hm.