Halle einst und jetzt

Im fortschreitenden Alter werde ich anscheinend nostalgisch und fange an, Stätten meiner Kindheit und Jugend aufsuchen zu wollen. So auch meine alte Schulstadt Halle an der Saale. Von 1989 bis 1991 hatte ich dort im Internat gewohnt und die «Arbeiter- und Bauernfakultät», eine Art Elitegymnasium, besucht. Zeitzeugen wissen: Es waren wilde Jahre.

Ich starte die Wiederentdeckungsreise an meinem (sehr netten) Hotel am Riebeckplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Der Platz hiess seinerzeit anders und ist offenbar umgebaut worden, bleibt aber ein Mahnmal der autogerechten Stadt. Fussgänger und Strassenbahnen verirren sich im Wegewirrwarr im Untergrund, während oben im hellen Schein der Frühlingssonne die Autos über die mehrspurigen Magistralen donnern. Man setzt Prioritäten.

Es ist Sonntag nachmittag; der Strassenbahntakt ist ausgedünnt. Bin ich überhaupt an der richtigen Haltestelle? Alles sieht so anders aus. War das früher nicht die Linie 12, Richtung Heide? Jetzt ist es die 5, Richtung Kröllwitz. Aber es scheint zu stimmen. Steintor … Kleinschmieden … kenne ich. Wurden die Haltestellen früher nicht vom Fahrer angesagt, in diesem typisch schnarrend-gepressten hallischen Tonfall? Heute kommt die Ansage jedenfalls vom Band, wie überall, mit korrekter Tagesschau-Stimme. Schade.

Die Bahn ist halbleer. Ich sehe die Häuserfassaden und Plätze vorbeiziehen. Alles ist sehr ansehnlich, wirklich, ungefähr bis zur Brücke hinter dem Hallmarkt. Danach: na ja.

Nach der Wiedervereinigung hatte man einen Teil der alten Ost-Strassenbahnen durch noch ältere aus dem Westen ersetzt. Fortschritt! Heute sind die Wagen natürlich neu und modern, und man kann sogar mit Fairtiq bezahlen.

Ausstieg am Weinbergweg. Ab hier geht es zu Fuss weiter. Wie damals, nur ohne Wochenendgepäck. Die Wege sind vertraut; Mensa und Wohnheim stehen noch am gleichen Ort – wo auch sonst? Sie sehen aber viel schöner aus. Der zehnstöckige Waschbetonplattenbau ist weiss verkleidet worden. Unser Stubenfenster glaube ich auch wiederentdeckt zu haben: zweiter Stock, drittes Fenster. Zu viert bewohnten wir 12 Quadratmeter, höchstens. Zwei Stockbetten, ein Tisch, drei kleine Schreibtischchen, vier Stühle und für jeden ein Spind. Kaum Platz zum Umdrehen. Gemeinschaftswaschraum auf der Etage, Duschen im Keller. Sowas kennen die Leute heute nur noch von teuren Survival-Trainings.

Nun will ich meinen Schulweg ablaufen. Der Trampelpfad entlang der Wilden Saale hat sich in einen hübschen Spazierweg verwandelt, und die Talstrasse am Saaleufer in eine Art verkehrsberuhigtes Naherholungsgebiet. Sehr schön! Nach kurzem Weg eröffnet sich bereits der Blick auf die Giebichenstein-Brücke, im Hintergrund thront die gleichnamige Burg.

Oben auf der Brücke könnte man nun in die Strassenbahn einsteigen, um die zweite Weghälfte fahrend zurückzulegen. Aber das hatte ich schon damals fast nie gemacht, sondern war mit der immer gleichen kleinen Schar Frühaufsteher die ganze Route gelaufen. Es geht leicht bergauf. Intuitiv biege ich überall richtig ab, dennoch wirken die Strassen hier irgendwie fremd. Vielleicht, weil die Häuser nicht mehr so einheitlich heruntergekommen sind wie dazumal?

Ich weiss noch genau, wie ich bei meiner Ankunft 1989 vom Anblick der inneren Stadt regelrecht schockiert war. Halle war ein graues Elend. Grauer Himmel, graue Mauern, graue Menschen. Bröckelnder Putz und Verfall, Schwefelgeruch in der Luft, brenzliger Geschmack auf der Zunge. Alles ist wieder präsent – in der Erinnerung.

Da steht es also, mein altes Schulhaus. Dieser imposante wilhelminische Backsteinbau. Noch grösser, als ich ihn im Gedächtnis hatte. Waren unsere Unterrichtsräume wirklich auf drei oder sogar vier Etagen verteilt? An ein paar kann ich mich noch erinnern. Unser Klassenzimmer war im ersten Stock, direkt über dem Haupteingang. Dort hatten wir Deutsch und mussten Antigone (nicht die von Brecht) oder Effi Briest interpretieren. Ich mochte das nie so richtig; zu einer Eins hat es am Ende trotzdem gereicht …

Unterrichtsgebäude II der Arbeiter- und Bauernfakultät «Walter Ulbricht» – Institut zur Vorbereitung auf das Auslandsstudium. Kurz ABF – IVA. Nachher nur noch IVA. Mit dem Hinschied der Arbeiter- und Bauernmacht verschwand der erste Teil des Namens. Der zweite bestand zwar auch nur noch auf dem Papier, aber an den acht Wochenstunden Russisch hielt man bis zum Schluss trotzig fest. «Извините, пожалуйста, где находится Институт международных отношений?» Ich glaube, wir waren der vorletzte Jahrgang an dieser Einrichtung. Tempi passati. Heute ist hier eine Sekundarschule.

Über dem Eingangsportal, das ich zwei Jahre lang täglich durchschreiten durfte, ist ein Spruch eingemeisselt: «Nur wahrhaft lebt, wer aufwärts strebt.» Ist der neu? War mir damals nie aufgefallen. Sehr bedenklich.

Auf dem rückseitigen Platz hatten anfänglich noch die Sportstunden stattgefunden – der Mief der Umkleideräume im Keller steigt mir wieder in die Nase. Irgendwann im Jahr darauf wurde der Sportunterricht bis auf eine Wahldisziplin abgeschafft. Ich war erleichtert.

Heute gibt es hier einen kleinen Schulhof, dahinter einen Bolzplatz und auf der anderen Strassenseite einen Park. Leute sitzen gemütlich unter den Bäumen, Kinder tollen herum. Es herrscht eine familiäre Frühlingsatmosphäre.

Ansonsten scheint das umliegende Quartier etwas alternativ angehaucht zu sein. Einschlägige Altbauten, einschlägige Cafédekorationen, einschlägige Gäste. Am Reileck laute Musik und herumhüpfende Leute in Aerobicanzügen. Ein Plakat klärt auf: «Medizin nach Noten». Insider wissen Bescheid.

Die Strassenbahn verspätet sich, ich gehe zu Fuss, es ist nicht weit bis in die Altstadt. Ein kurzer Abstecher zur Moritzburg, und danach schlendere ich kreuz und quer durch unbekannte Gassen. Ich kann mich an fast nichts erinnern, entweder weil ich hier nie war oder weil alles anders aussieht. Nur das alte Auditorium Maximum mit den Löwenfiguren erkenne ich sofort wieder.

Unterwegs kehre ich zum Abendessen ein. Es gibt Leber und Schwarzbier.

Ein sehr schönes Bild bietet der Hallmarkt unterhalb der gewaltigen Marktkirche. An selbiger vorbei geht es über eine Treppe mit irritierender Bemalung – von unten sieht sie aus wie ein Bauzaun – hinauf zum Marktplatz. Ein vertrauter Anblick: Marktkirche, Roter Turm, Händeldenkmal. Dazwischen kommen und gehen die Strassenbahnen. Dafür, dass das der Mittelpunkt der Stadt ist, ist es ziemlich leer. Aber die Fläche ist riesig, vielleicht wirkt deshalb alles ein wenig verloren.

Beklemmende Gefühle steigen auf: An einem Abend im Herbst 1989 erblickte ich hier zum ersten Mal Volkspolizei in Kampfmontur, mit Helm, Schild und Schlagstock, bereit zum Empfang der anrückenden Montagsdemonstration. Es war wirklich beängstigend.

Die Gleise entlang geht es zur südlichen Altstadtgrenze, unüberseh- und -hörbar markiert durch die leidige aufgeständerte Schnellstrasse. Darunter duckt sich der Franckeplatz, und etwas seitlich markiert die beeindruckende Fassade des historischen Waisenhauses den Eingang zu den Franckeschen Stiftungen. Das ausgedehnte Gelände hatte ich nur als Beinahe-Ruinenlandschaft in Erinnerung. Natürlich ist jetzt alles neugestaltet. Man kann sehr angenehm zwischen den Häusern umherspazieren.

Es wird kühl, ich sollte meinen Rundgang langsam beenden. Der Weg zurück führt zum Leipziger Turm und von dort die Leipziger Strasse, die Haupteinkaufsstrasse, entlang. Nicht gerade die Fifth Avenue, aber wir sind schliesslich in Halle.

Der Kreis schliesst sich; ich bin wieder am Riebeckplatz angelangt. Von dieser Seite sieht er plötzlich gar nicht so übel aus.

Halle, Sachsen-Anhalt, 29. bis 30. Mai 2022