Steinreiches Tessin

Ich sitze auf der steinernen Pergola-Terrasse in Auresio, Onsernonetal, Tessin. Hier ist Italien, nicht Schweiz, denkt man. Solche Lokalitäten habe ich auch in Griechenland gesehen. Der dickliche Koch ist am Schwätzen mit der älteren Dame des Hauses. Alles, die Lampen, die Stühle, die Tische sind alt und zusammengewürfelt. Auf dem Balkon meines Zimmers lagen ein Handtuch, Socken und ein Höschen, gewaschen, getrocknet und vergessen, wurde mir versichert. Die Hausdame ist sehr freundlich. Handtücher für mich habe ich aus dem Nachbarzimmer entwendet, die Tür stand offen.

Manchmal fährt ein Auto vorbei oder ein Bus. Es ist wie in einem alten Film, ein Dorf, in dem scheinbar nichts passiert. Die Kirche befindet sich oberhalb der Häuser, den Gang vor das Angesicht Gottes muss man sich erarbeiten. Drin ist es kühl und still. So still, dass man alles hören würde, sollte jemand beichten. Es gibt erstaunliche Treppenwege zwischen alten Steinhäusern, welche auch von Skorpionen und etlichen Eidechsen benutzt werden, alles malerisch mit bunten, leuchtenden Blumen betont.

Heute morgen bin ich im Sprühregen los; mit dem lieben gelben Poschti – express – nach Bellinzona. Die Expressgeschwindigkeit hat sich im Ferienstau Richtung Süden verloren. Die 35 Minuten Verspätung hatten zur Folge, dass Zeit für einen Spaziergang durch Locarno blieb. Auf die Piazza Grande, wo erneut etliche unbesetzte Stühle ein spezielles Bild abgeben. Filmfestival. Akteure tagsüber sind sommerlich gekleidete Wesen und gelatoschleckende Touristen. Zuschauer haben sich allerdings nicht eingefunden. In der Sonne 35 °C, laut Apotheken-Anzeige.

Auf der Pergola-Terrasse gibt es eine steinerne Ecke, an welcher Wasser runterläuft, nur die Feuchtigkeit ist zu sehen, es ist nichts zu hören. Darüber befindet sich, auf einer Ablage, keine Heilige, sondern eine kopflose Figur, ähnlich Pinocchio. Sie sitzt auf einem pinken Stühlchen und hat einen Schnuller am Kragen hängen. Die Heilige befindet sich in Papierform auf dem Info-Tisch, beim Eingang ins Restaurant, rechts. Sie bewacht die Prospekte für Touristen. Um 17.30 Uhr soll es Pizza geben, aus dem Holzofen, nur dass ich jetzt um 17.19 Uhr noch kein Feuer sehe. Abwarten. 17.27 Uhr, es riecht nach Holzofen.

Tessin, das ist üppiges Grün. Grün, so dicht, so berauschend.

Es ist wunderbar, so frühzeitig bei einer Hütte einzutreffen, dass man der erste Gast ist. Die Ruhe, der Tisch aus Stein allein für mein Glas mit Bier. Die Aussicht geniessen ohne Worte anderer im Ohr.

Früh am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, bin ich zum See gelaufen. Die Sonne steigt über die Berge, die ersten Strahlen treffen zwischen den Bäumen auf das Wasser. Alles ist unberührt. Die weissen Blümchen im Schatten.

Ich habe es mir geleistet, einen ganzen zusätzlichen Tag auf der Hütte zu verbringen, nicht weiterzugehen. Welch Genuss! Alle anderen Wanderer trinken ihren Kaffee aus und gehen. Die Zeit zu haben, nichts zu tun, ist ein Geschenk und gleichzeitig keine einfache Angelegenheit. Zu sehr ist man im Alltag damit beschäftigt, innerhalb von Zeit etwas zu tun. Es kostet Willen, nichts zu tun. Die Stunden vergehen zu lassen.

Ich habe diese Zeit hauptsächlich auf einem grossen, warmen Felsblock verbracht. Dösend, schauend, lauschend, barfuss. Irgendwann kommen wieder Hüttengäste. Sie bringen Geräusche, Blicke, Wünsche. Sie entreissen einem die kleine Welt, von der man ein paar Stunden lang dachte, sie würde einem gehören.

Weiter geht es, über Steinplatten von 1893, über Treppen durch den Wald. Man überquert eine Brücke aus Stein, alt, gebogen; man geht am Friedhof vorbei und nimmt in einem Gasthaus Platz. Es gibt ein einziges Gericht. Das reicht, man bekommt etwas zu essen.

Die Unterkunft für diese Nacht war entsetzlich, zuerst. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich in eine alternative Junkie-Hütte geraten bin. Mit guten Bewertungen bei booking.com. Die Gäste gemischt. Ich konnte schlafen.

Und weiter. Steine, Steine, Steinhäuser, Steinmauern, Steinwege, Tische und Dächer aus Stein. Dazwischen die schönsten Hortensien, Palmen und wilder Wein. Eine kleine Rast an einem rauschenden Brunnen.

Rot-weisses Wanderzeichen auf einem Stein, welcher fast gänzlich im feinen Sand verborgen liegt. Ein Wanderweg am Fluss entlang. Warum traue ich mich nicht ins Wasser? Ach, kein Badeanzug. Und nicht einsam genug, um es nackt zu tun.

Und dann: Albergo Centovalli. Eine Villa mit grünen Fensterläden, rosa Fassade, in weiss betonte Details über den Fenstern und unter dem Dach. Davor Palmen. Es ist heiss. Ein wundervoller, von Weinreben beschatteter Garten. Hier sitze ich lange, so lange, bis es Abendessen gibt. Sehr fein. Ein sauberes, kühles Zimmer, wunderbar, um darin zu schlafen.

17. bis 23. Juli 2021

  • Alpe Salei–Zott: 13,9 km, 4 h 20 min, 300/1070 Hm
  • Vergeletto–Capanna Alzasca: 9,68 km, 3 h 11 min, 1090/230 Hm
  • Capanna Alzasca–Linescio: 9,51 km, 2 h 49 min, 90/1170 Hm
  • Someo–Ponte Brolla: 18,6 km, 4 h 49 min, 270/370 Hm
  • Ponte Brolla–Gordevio: 5,72 km, 1 h 29 min, 110/30 Hm
  • Lodano–Gordevio: 9,69 km, 2 h 8 min, 70/110 Hm