Wenn mich jemand fragen würde, wie Kozmerice im Mai aussieht, würde ich sagen: grün. Unzählige von Grün. Vermutlich fällt es auf, weil man daheim, gefangen im Alltag, keine Augen hat für das Grün um Chur. Man sieht nur den Bus auf dem Weg zur Arbeit, darin die immer gleichen Gesichter. Die Berge bestaunt man aus der Ferne, hier war man wandern.
Die Grillen zirpen wie im Hochsommer, obwohl es draussen nur 12 Grad sind. Ich habe sie Alpengrillen genannt, denen eine Frühlingssonne ausreicht, um uns das Gefühl zu geben, es wäre Sommer. Die Wiesen sind voll mit Kindheitsblumen: gelbe, violette, weisse. Ich kenne ihre Namen nicht, nur die Margeriten erkenne ich mit Namen, und die Erinnerung an die Wiese in Nussbach ist da. Dorthin war ich entschwunden, wenn ich von der Schule aus Hausarrest hatte, und bewunderte wie jetzt die Blumen. Auf der Weide vor dem Haus grasen geschorene Schafe; sie ziehen sich zurück, wenn es regnet; scheint die Sonne, sind sie idyllischerweise da.
Ich habe ein paar wilde Blüten gepflückt und sie in zwei kleinen weissen Vasen auf den Küchentisch gestellt. Vermutlich welken sie schnell, sie sind ja wild, aber dennoch.
Läuft man die Strasse ins Nachbardorf Sela, glaubt man sich in einer heilen Welt. Wo ist die rasende Zeit? Es ist doch friedlich und grün und zirpend.
In Most na Soči gibt es zwei, drei Plätze die man mit «schön» bezeichnen könnte. Das umgedrehte Boot am Rande des sogenannten Sees, der Blick von der Brücke auf die Soča und der Kirchplatz. Die Kirche und ein grosser Baum. Steht man am See, ist man doch erstmal sprachlos im Angesicht der Farbe: türkisblau, giftgrün, hat diese Farbe überhaupt einen Namen? Rundherum grüne, kräftige, frische Bäume, Sträucher und Gras. In der Ferne die dunklen Berge. Der Soča und ihrer Farbe machen Wolken nichts aus, ja im Gegenteil, ich habe den Eindruck, die Farbe gewinnt an Kraft. Am liebsten jedoch ist mir die Brücke: Man könnte dort stehen und schauen, sehr lange schauen. Wie ist es morgens, abends, bei Sonnenschein, im Winter? Wie verändert sich die Soča?
Gestern waren wir im Karstgebiet. Štanjel, die «Perle» unter den Orten im Karst bietet verwinkelte Gassen, Steinhäuser, die bei bewölktem Himmel doch ziemlich düster aussehen, und eine Kirche mit einem Turm wie eine Granate. Ob das niemandem auffällt? Und ja, im Mai ist der Ort überwiegend tot. Er lebt wohl nur im Sommer. Beeindruckend ist die Sicht aus der Ferne auf Štanjel. Man sollte es dabei belassen. Man würde weiterfahren mit dem Eindruck, etwas Wichtiges, eine befestigte Ortschaft, stark, der Zeit trotzend, gesehen zu haben. Und nicht nur leere Strassen. Aber ich spreche vom Mai.
In Sežana waren wir spontan essen, in einer Gostilna. Punkt 12 Uhr, mit vielen Einheimischen, die wohl um zwölf Mittagspause haben. Mutig sind wir eingetreten, verwirrt Platz genommen. Slowenisch sprechen? Ein wenig Italienisch hat uns weitergeholfen. Wir haben wie alle ein Mittagsmenü bestellt, etwas mit Carne milanese und Calamari. Glück gehabt: Es kamen ein paniertes Schnitzel und frittierte Tintenfischringe. Die Dame des Hauses trug eine Kittelschürze und war äusserst emsig, all die Tische zu bedienen. Der Hausherr trug Jeans und schloss nie die Tür zum Nebenraum. Das tat ein Gast, dem es wohl zog. Seinem Tischgenossen sass er nicht direkt gegenüber, sondern schräg. Wie unüblich. Die Gostilna bewirtete unterschiedliche Menschen: Handwerker, Büroangestellte, feinere Damen und uns, mit Wanderhosen, Rucksack und Kamera. Wir wurden ein wenig beäugt, wir haben es uns schmecken lassen.
Kozmerice, Tolmein, Slowenien, 4. bis 12. Mai 2019