Wir sitzen im schattigen Garten des Österreichischen Hospizes und geniessen einen Apfelstrudel. Jenseits der Umfassungsmauer plärrt der Ruf des Muezzins aus den Minarettlautsprechern. Zehn Schritte vor der Eingangspforte patrouillieren schwerbewaffnete Soldaten und schauen prüfend einer Schar ein Holzkreuz schleppender Pilger nach, die in Richtung der engen Gassen entschwindet. Zwei Juden im orthodoxen Ornat hasten mit gesenktem Kopf die Strasse hinunter. Kein Zweifel: Wir sind in der Heiligen Stadt.
Recht ungeplant hatten wir uns auf das Abenteuer Jerusalem eingelassen. Warum tut man so etwas? Ist das einer dieser Orte, die man unbedingt einmal besucht haben muss?
In der Tat, es lässt einen nicht kalt, an all diesen historischen Stätten zu stehen: der Davidsstadt, dem Tempelplateau, dem Ölberg, Golgota oder dem Heiligen Grab. Da drängt biblische Geschichte, Heilsgeschichte, ungefiltert ins Hier und Jetzt. Und gleichzeitig überkommen einen Erstaunen, Widerwillen, Mitleid – in dieser Reihenfolge – angesichts des Irrsinns, der sich hier täglich vor unseren Augen entfaltet. Die heulenden Frauen in der Grabeskirche, die unermüdlich auf dem Salbungsstein herumwischen. Die hektischen Wippbewegungen der in Tallit gehüllten Körper vor der Klagemauer. Die gegenseitige Unduldsamkeit: Ein kleiner Prospekt einer jüdischen Ausgrabungsstätte musste vor Betreten des muslimisch verwalteten Tempelberges weggeworfen werden, aus Sicherheitsgründen. Umwege wegen gesperrter Gassen, weil am Damaskustor ein Araber einen israelischen Soldaten erstechen wollte. Der Angreifer wurde augenblicklich niedergeschossen.
Jerusalem ist ein orientalisches Durcheinander und Nebeneinander, ein gegenseitiges Belauern und gleichzeitiges Ignorieren. Eine groteske Karikatur einer heiligen Stadt. Klischees werden Wirklichkeit. Man fühlt sich irgendwie unbehaglich.
Und doch gibt es die wunderschönen, ruhigen, erhebenden Momente. Ein nächtlicher Gang durch die engen, holperigen Marktgassen samt Via Dolorosa, wenn die Läden zugeklappt, die Rufe der Händler verhallt, die Menschenmassen in ihre Häuser oder Hotels zurückgekehrt sind. Ein ehrfürchtiger Rundgang durch die kurz vor Toresschluss wie leergefegte Grabeskirche. Morgens, bevor die Busse kommen, hinaus auf den Ölberg, von dem aus sich das herrlichste Stadtpanorama darbietet. In einer stillen Ecke des Tempelbergs auf einem Mäuerchen sitzen, die bombastische Goldkuppel des Felsendoms vor Augen. Ein Spaziergang auf der westlichen Stadtmauer mit Blick über das chaotische Gewirr der Hausdächer, Kuppeln und Minarette der Altstadt. Oder ein geruhsamer Nachmittag im Garten unserer schönen Herberge, des Österreichischen Pilgerhospizes zur Hl. Familie.
Ja, Jerusalem muss man einmal erlebt haben. Einmal und nie wieder.





Jerusalem, Israel, 31. März bis 8. April 2017