Island im Schnelldurchlauf

Die vorzeitige Ankunft in Reykjavík brachte neben einer Nacht im warmen Bett noch einen weiteren Vorteil mit sich: Es blieb mehr Zeit für die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten von Stadt und Umgebung. Den Stadtrundgang verschob ich auf den Sonntag und fuhr heute zum sogenannten Goldenen Ring, einer Touristikroute, welche drei Hauptattraktionen Islands verbindet und dabei die Themenfelder Geschichte, Plattentektonik, Geysire und Wasserfälle abdeckt. Wer es eilig hat, kann damit Island im Schnelldurchlauf erleben.

Bevor ich zur Tagesbeschreibung komme, noch ein kurzes Wort zu den Nächten. Es ist faszinierend, wie hell diese in Island zu dieser Jahreszeit sind. Da ich noch nie so weit nördlich war, hatte ich dieses Phänomen zuvor noch nicht beobachten können. Die Sonne verschwindet gegen Mitternacht flach unter dem Horizont, hinterlässt ein hellgraues Dämmerlicht und geht nach etwa einer Stunde schon wieder auf. Es wird also überhaupt nicht dunkel. Wie finster und trübsinnig müssen dagegen die Winter sein!

Bei sonnigem Wetter und über 20 °C war die erste Station des Tages das Tal Þingvellir. Dieser Ort ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen verläuft hier, recht eindrücklich sichtbar, die plattentektonische Grenze zwischen Europa und Amerika. Zum anderen tagte hier nach Abschluss der Landnahme durch die Wikinger vor über 1000 Jahren der Althing, also die jährliche Volksversammlung. Am zentralen Ort, dem Lögberg, ist heute ein kleines Amphitheater aufgebaut. Hier hielt gerade ein Lehrer seiner Klasse einen Vortrag. Als er bemerkte, dass sich einige ausländische Touristen dazugesellt hatten, schaltete er auf Englisch um und führte aus, die Isländer seien sehr stolz auf ihre wikingische Herkunft und geben beispielsweise ihren Kindern noch heute hauptsächlich altnordische Namen. Dagegen, so fuhr er fort, haben etwa die Norweger ihr Erbe vergessen und heissen nur noch Jan, Kristian oder Morten. Offenbar war gerade kein Norweger anwesend, der hätte widersprechen können.

Zweiter Haltepunkt war das Haukadalur, ein Gebiet, das wegen seiner heissen Quellen und Geysire berühmt ist. Hier liegt auch der «Ur-Geysir», der Namensgeber für alle grossen Springquellen. Leider bricht er heute nicht mehr aus, sondern ist nur noch ein stilles Wasserloch. Ganz anders dagegen der Strokkur, der alle paar Minuten eine gewaltige Fontäne in die Luft schiesst, was vom Publikum jedesmal mit lautem Ah! und Oh! bedacht wird. Die übrigen Quellen liegen zum Teil still da, in anderen brodelt siedend heisses Wasser. Wo aus den Löchern Rauch aufsteigt, liegt ein bestialischer Schwefelgestank in der Luft. Man sollte darum bei seinem Rundgang über das recht kleine Gelände die Windrichtung berücksichtigen.

Die dritte Attraktion und zugleich Endstation des Goldenen Rings, der eigentlich gar kein Ring ist, ist der namensgebende Gullfoss, der «goldene Wasserfall». Hier stürzt das Wasser über zwei schräg zum Flussbett angeordnete Katarakte donnernd in die Tiefe. Ein Netz von Wegen am Ufer ermöglicht es, dieses Schauspiel stundenlang aus unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten. Der Gullfoss und seine Umgebung geben ein beeindruckendes und wunderschönes Bild ab, das noch gekrönt wurde, als die Sonne hervorkam und einen Regenbogen in die Gischtwolke zauberte.

Im Gegensatz zu anderen, sicher ebenso grossen Naturspektakeln Islands ist der Goldene Ring ein richtiger Touristenmagnet. Darauf muss man sich als Individualreisender, der ansonsten nur halbleere Landschaften durchfährt, einstellen. Busweise werden die Besucher aus Reykjavík herangekarrt. Sogar englische und amerikanische Schulklassen waren darunter, wobei die meisten dieser jungen Leute leider sehr uninteressiert schienen.

Auf dem Rückweg fuhr ich noch den Ort Skálholt an. Dies war früher der Bischofssitz und das geistig-kulturelle Zentrum Islands. Von den einstigen Gebäuden sind aber nur noch ein paar wenige Grundmauern übrig, und man kann sich gar keinen Eindruck von der Gesamtanlage machen, was ich etwas enttäuschend fand. Die Ausgrabungen laufen noch, vielleicht sieht man in ein paar Jahren mehr.

Das konnte aber die anderen Eindrücke dieses Tages nicht schmälern, mit denen ich nach Reykjavík zurückkehrte.

Island, 7. bis 14. Juli 2011